Ohne Grund nicht gedrucktes Interview von 2018
1.) Herr Prof. Braun, Sie haben 50 Jahre nach 68 eine kritische Bilanz gezogen. Warum haben Sie dazu nicht schon früher geschrieben bzw. warum wird die Schrift gerade jetzt publiziert? Ist das Kind nicht schon in den Brunnen gefallen?
Ich habe nicht erst im Ruhestand damit angefangen, zeitgeschichtliche Betrachtungen zu verfassen, sondern pflege dieses Genre bereits seit Jahrzehnten. Wer die Mühe nicht scheut, findet dafür in meinen "Rückblicken auf sieben Jahrzehnte BRD" manche Belege.
Um eine auf langzeitige Folgen abzielende Bewegung als Ganze überschauen zu können, bedarf es jedoch des Abstandes. Man muß erst einmal Erfahrungen sammeln und diese adäquat einander zuordnen. Für "politische" Professoren, die zu allen Tagesereignissen zeitgleich ihren Senf abgeben, mag dies anders sein. Ich persönlich halte es insoweit mehr mit Hegel, nach dessen Worten der "Gedanke der Welt" erst erscheint, "nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat": "Die Eule der Minerva beginnt erst in der Dämmerung ihren Flug." Zu diesem Zeitpunkt kann man freilich in der Tat nur registrieren, was unabänderlich geschehen ist, um der nächsten Gestalt des politischen Lebens mit wachen Augen begegnen zu können.
Schließlich: Anläßlich der 50. Wiederkehr des Jahres 1968 darf man für eine kritische Bilanz vielleicht am ehesten Aufmerksamkeit erwarten. Denn machen wir uns nichts vor: unabhängig von Gedenkjahren interessiert sich heute doch kaum jemand dafür, was die Menschen vor einem halben Jahrhundert bewegt hat. Viele der jetzt Lebenden waren damals ja noch gar nicht auf der Welt. Aber wenn die verbliebenen 68er wie auf Kommando aufstehen, um an der Verklärung und Verharmlosung ihrer juvenilen Torheiten zu arbeiten, darf ihnen die Kritik das Feld nicht schweigend überlassen.
2.) Sie stellen in Ihrer Abrechnung die selbstgewählten Ziele der 68er den durch sie (mit-)verursachten tatsächlichen Entwicklungen gegenüber. Häufig ergeben sich dabei groteske Widersprüche, auf die die Rädelsführer der gesellschaftlichen Umkonstruktion hätten aufmerksam werden müssen. Was waren die „echten“ Ziele der 68er, was war Propaganda?
Niemand vermag alle Folgen seines Tuns vorauszusehen. In dieser Beziehung ist es den 68ern nicht anders ergangen als anderen auch. Um noch einmal Hegel anzuführen: "Der Stein aus der Hand ist des Teufels." Das heißt, wir wissen nicht, ob er das Ziel erreicht, das wir ins Auge gefaßt haben, oder aber ein anderes. Daher täten wir gut daran, uns auf diese unsichere Lage einzustellen – und zwar bevor wir werfen. Eine gewisse Skepsis im Hinblick auf die eigenen Möglichkeiten wäre in diesem Zusammenhang nicht schlecht. Aber eine solche Haltung war den meisten 68ern nach meinem Eindruck fremd.
Die Widersprüche, die unserem Denken immanent sind, sollten an sich leichter zu erkennen sein. Aber auch insoweit waren die 68er keine Meister. Ich habe niemals öfter von "Dialektik" reden gehört als damals, obwohl für jeden nüchternen Betrachter auf der Hand lag, daß das Denken der meisten dieser Marx-Jünger nicht dialektisch, sondern im Ansatz totalitär war.
Die Ziele der Beteiligten waren sicher nicht durchweg dieselben. Was der Bewegung Schubkraft verliehen hat, war jedoch, daß die Hauptbetreiber auf die Realisierung einer Utopie aus waren, die sie ihrem Anhang schmackhaft zu machen wußten. Utopisten versprechen gewöhnlich den Himmel auf Erden, und wenn zufällig die Hölle herauskommt, so sagen sie ohne mit der Wimper zu zucken: Entschuldigung, aber beim nächsten Mal klappt es besser.
3.) Sie beschuldigen die 68er, verantwortungslos gehandelt zu haben. Glauben Sie, daß solche Vorwürfe bei den Beschuldigten eine moralische Wunde hinterlassen? Wer wird die Anklage führen und was könnte auf die Anklage folgen?
Zum ersten: Nein, ich glaube nicht, daß mein Vorwurf eine Wunde hinterläßt – daß er eine verärgerte Abwehr auslöst, schon eher. Denn mein Menschenbild ist von der Erkenntnis bestimmt, daß Haltungen und Einsichten, die man bei Hänschen nicht findet, von Hans erst recht nicht zu erwarten sind.
Zum zweiten: Die Anklage in solchen Dingen wird immer von den folgenden Generationen erhoben. In der Vergangenheit haben nicht wenige Nachgeborene ihren Eltern und Großeltern einen Fluch ins Grab nachgeschickt. Das wird vielleicht auch dieses Mal so sein. Was daraus folgen könnte? Ein Pessimist würde vielleicht sagen: Wenn es läuft wie üblich, dann die nächste kollektive Torheit, die zum nächsten historischen Fehltritt führt.
4.) Sie beschreiben, wie die intellektuelle Linke sich auch durch 1968 mit irren Experimenten, Forderungen und Agitationen immer weiter von ihrer Basis, der einfachen Arbeiterschicht, entfremdete. Durch die Masseneinwanderung entsteht zunehmend eine Konkurrenzsituation um Wohnraum, Kitaplätze, Sozialmittel usw. Viele Arbeiter wählen heute rechts und werden dafür von der linksliberalen Meinungselite mit Verachtung gestraft. Haben die 68er der deutschen Linken also ihr eigenes Grab geschaufelt?
Utopisches Fernziel der Linken ist eine weltweit verwirklichte egalitäre Gesellschaft. Als Hebel, um diese zu erreichen, wurde lange Zeit die Arbeiterklasse der modernen Industriestaaten angesehen. Dieses Spiel ist im Zuge moderner Veränderungen schwieriger geworden. Ganz abgesehen davon haben linke Strategen das Gewicht vom sozialen Klassenkampf zunehmend auf die mentale Indoktrination verlagert. Für diese "Kulturmarxisten" ist der Arbeiter nicht mehr das eigentliche Subjekt der Geschichte, sondern im Grunde nur Stimmvieh, das man für Zwecke, die ihm fremd sind, zu ködern versucht.
Mit Todeserklärungen für politische Ideologien sollte man gleichwohl vorsichtig sein. Bevor ich die Leiche des Totalitarismus nicht gesehen habe, glaube ich nicht, daß er tot ist.
5.) Was bedeutet es heute, „links“ zu sein?
Soll ich wirklich in dieses Wespennest greifen? Historisch gesehen war es so, daß die Linke ursprünglich den in prekären Verhältnissen lebenden Arbeiter emanzipieren wollte. Dann wurde die Emanzipation der unterdrückten Frau aufs Panier geschrieben, dann die der ausgebeuteten Ausländer, dann die der angeblich "rechtlosen" Homosexuellen und schließlich die aller möglichen weiteren "diskriminierten" Minderheiten. Denkt man dies konsequent zu Ende, so zeigt sich ein Zug zur Nivellierung aller menschlichen Verhältnisse, eine "Furie des Verschwindens", die nichts Überkommenes bestehen lassen will und die Grundlage jeder menschlichen Ordnung untergräbt. Die Funktion der linken Ideologie ist es zu allen Zeiten, diesen Zusammenhang mit dem Deckmantel der Humanität und des Fortschritts zu verhüllen, damit er nicht ins Auge fällt. Auf welche Weise genau dies gerade geschieht, ist im Grunde belanglos.
6.) Die Linke vertritt heute in vielerlei Hinsicht das Programm des globalen Kapitalismus: offene Grenzen, Überwindung von organischen Gemeinschaften, Familienfeindschaft, Entfesselung pur. Kann eine zeitgenössische Linke überhaupt noch glaubwürdig kapitalismuskritisch sein?
Zwei Seelen wohnen auch in der Brust der Linken. Diese wollen traditionell die Aneignung des "Mehrwerts" fremder Arbeitskraft bekämpfen und geben sich daher antikapitalistisch. Gleichzeitig streben sie, wie bereits gesagt, als Fernziel eine globale egalitäre Ordnung an. Zu diesem Zweck genügt es nicht, bloß die Arbeitskraft zu "sozialisieren"; vielmehr muß dazu der Mensch in toto vereinnahmt und "vergesellschaftet" werden.
Ersteres war lange Zeit die vorherrschende Praxis der Linken, letzteres eine mangels Verwirklichungsmöglichkeit recht vage Theorie. Im gleichen Maße, wie die Globalisierung real an Fahrt gewinnt, erweist sich der Kapitalismus als eine Art Geburtshelfer linker Weltherrschaftspläne; denn auch er strebt eine globale Ordnung an und arbeitet auf die Zerstörung gewachsener Strukturen hin. Insoweit berühren sich derzeit die Extreme, und man kann gemeinsam an einem Strang ziehen, um die "bürgerliche Gesellschaft" zu schleifen. Was unter dem Strich bleibt, ist der Streit über die definitiven Herrschaftsmittel und die Stellung, die dem Individuum noch zugestanden wird. Dafür werden sich die Menschen nicht ohne quasireligösen Aufwand mobilisieren lassen.