Wahrung nationaler Identität – Wandlungen eines Begriffs

Aus: Die Freie Welt. Internet- & Blogzeitung für die Zivilgesellschaft vom 16.8.2018


Würde man gelegentlich festhalten, was manche Leute so reden und schreiben, und das dann miteinander vergleichen, wäre die Überraschung groß. Womöglich könnte dies auch denjenigen die Augen öffnen, denen sie bislang verschlossen waren. Zu diesem Behuf jedenfalls stelle ich im folgenden einige Äußerungen von Politikern über die Bedeutung der nationalen Identität zusammen, wie sie im Laufe der Jahre gemacht und meist schnell wieder vergessen wurden. Wer will, mag darin einen Beitrag zur staatsbürgerlichen Bildung sehen – oder zur Aussichtslosigkeit jeden Versuchs einer solchen.

Sorge um die kulturelle Identität Tibets
Ich beginne mit der herzrührenden Sorge unserer gewählten Volksvertreter um die ethnische und kulturelle Identität Tibets. Am 20. Juni 1996 nahm der Deutsche Bundestag bei nur wenigen Enthaltungen fast einstimmig einen von den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gestellten Antrag (BT - Drs. 13/4445) zur Verbesserung der Menschenrechtssituation in Tibet an (BT Prot. 13. Wahlperiode, S. 10107). Unter Hinweis auf die "eigene ethnische, kulturelle und religiöse Identität" Tibets, die durch das Vorgehen Chinas von der Zerstörung bedroht sei, verurteilte der Bundestag "die Politik der chinesischen Behörden, die im Ergebnis gerade auch in bezug auf Tibet zur Zerstörung der Identität führt, insbesondere mittels Ansiedlung und Zuwanderung von Chinesen in großer Zahl ..." Die Bundesregierung wurde aufgefordert, sich verstärkt dafür einzusetzen, daß "die chinesische Regierung jede Politik einstellt, welche die Zerstörung der tibetischen Kultur zur Folge haben kann, wie z.B. die planmäßige Ansiedlung von Chinesen in großer Zahl ...", sowie daß "dem Verlangen des tibetischen Volkes , die tibetische Kultur und Religion zu erhalten, verstärkt Beachtung geschenkt wird und die Bereiche ermittelt werden, in denen das deutsche Volk und die Bundesregierung Hilfe leisten können".

Nationale Identität als Voraussetzung für europäische Einigung
Vier Jahre nach dieser bewegenden Bekundung versuchte Friedrich Merz, der damalige Fraktionsvorsitzende der CDU, einen ähnlichen Schutz der Identität für Deutschland geltend zu machen. Er bediente sich dafür des bereits von anderen geprägten Begriffs der "Leitkultur", der gut geeignet ist, die besondere Bedeutung der angestammten Kultur eines Einwanderungslandes im Vergleich zu den unterschiedlichen Prägungen der neu Hinzugekommenen herauszustellen. Am 28. November 2000 führte Merz im Bundestag aus: "Wenn es richtig ist, daß die Mitgliedstaaten, die Nationen in Europa, eine wesentliche tragende Säule der europäischen Integration bleiben, dann müssen wir uns auch über das Thema nationale und kulturelle Identität der Mitgliedstaaten selbst unterhalten. Sonst wird es nicht gelingen... Sie werden auch darauf Antworten geben müssen, was die Mitgliedstaaten, die Nationen in der Europäischen Union, im Innersten zusammenhält... Die Bundesrepublik Deutschland löst sich aber in diesem europäischen Projekt nicht auf, sondern sie muß eine eigene Identität und eine eigene Zukunft haben... Nation und Europa schließen sich nicht aus, sondern bedingen sich gegenseitig. Ohne Nationen wird Europa nicht gelingen." (BT Prot., 14. Wahlperiode, 135. Sitzung, S. 13035 f)

Aber damit stach Merz in ein Wespennest; denn was man den fernen Tibetern als unveräußerliches Menschenrecht zugestand, nämlich das Recht auf die Bewahrung ihrer ethnischen und kulturellen Identität, sollte für Deutschland durchaus keine Gültigkeit haben. Von allen Seiten fiel man in der Folge über den an sich selbstverständlichen Begriff der deutschen Leitkultur her und versuchte ihn in Verruf zu bringen. Äußerstenfalls wollte man eine "europäische Kultur" gelten lassen, ohne zu bedenken, daß den Tibetern wenig geholfen wäre, wenn man nicht die tibetische, sondern nur die "asiatische Kultur" anerkennen würde, deren bedeutendster Teil wohl die chinesische ist.

Der Islam ist Teil Deutschlands, Muslime sind hier willkommen
Namentlich genannter Mitunterzeichner des zugunsten Tibets gestellten Antrags war u.a. Dr. Wolfgang Schäuble. Zehn Jahre nach der Unterzeichnung, am 28. September 2006, sagte Schäuble – nunmehr Bundesminister des Innern – anläßlich der Deutschen Islam Konferenz im Bundestag folgendes: "In Deutschland leben heute zwischen 3,2 und 3,5 Millionen Muslime. Die meisten von ihnen sind vor Jahrzehnten mit ihren Traditionen und Gewohnheiten, mit ihrer Religion und mit ihrer Kultur in dieses Land gekommen ... Der Islam ist Teil Deutschlands und Teil Europas, er ist Teil unserer Gegenwart und er ist Teil unserer Zukunft. Muslime sind in Deutschland willkommen. Sie sollen ihre Talente entfalten und sie sollen unser Land mit weiter voranbringen." (BT Prot., 16. Wahlperiode, 54. Sitzung, S. 5148 f)

Fortbestand des Volkes als rassistische Vorstellung
Während auf den Straßen der linke Mob seinen kollektiven Selbsthaß zelebrierte und mit Parolen wie "I like Volkstod", "Nie wieder Deutschland", "Bomber Harris, do ist again" oder "Deutschland, du mieses Stück Scheiße" um Aufmerksamkeit warb, stellte die NPD mit Datum vom 2. November 2011 im Landtag Mecklenburg-Vorpommern einen Antrag "Den biologischen Fortbestand des deutschen Volkes bewahren!" (Landtag Mecklenburg-Vorpommern, Drs. 6/93). Danach sollte der Landtag die Landesregierung auffordern, "den Landtag bis zum 31. Dezember 2011 zu unterrichten, mit welchen konkreten Maßnahmen die Landesregierung die Förderung der deutschen Familien in Mecklenburg-Vorpommern gezielt unterstützt und somit den Kinderreichtum im eigenen Land fördert." Die Begründung bediente sich der Rhetorik der Identitätspolitik, die auch dem Entschießungsantrag zu Tibet zugrunde gelegen hatte, und lautete: "Die Vielfalt der Völker und die unterschiedlichen Kulturen bilden die Grundlage für den Reichtum Europas! Das deutsche Volk hat mit seinem Ideenreichtum und seiner Kreativität, seinem Forschungs- und Entwicklungsstreben, den anderen Völkern viel gegeben. Wir haben auch deshalb das Recht und die Pflicht, den biologischen Fortbestand unseres Volkes zu bewahren!"

Das war für die anderen Fraktionen eine schwierige Situation. Man hätte versuchen können, sich durch ein Bekenntnis zum Fortbestand der deutschen Kultur aus der Affäre zu ziehen. Am 16. Dezember 2011 erklärte Stefanie Drese (SPD), mittlerweile Ministerin für Soziales, Integration und Gleichstellung in Mecklenburg-Vorpommern, zugleich im Namen der anderen Fraktionen indessen folgendes: "Den Antrag der NPD-Fraktion, den biologischen Fortbestand des deutschen Volkes zu bewahren, lehnen die Vertreter der demokratischen Fraktionen ... mit aller Nachdrücklichkeit und aufs Schärfste ab. Dieser Antrag ist rassistisch und menschenverachtend, engstirnig und rückwärtsgewandt ... Hier stehen alle Demokraten zusammen und werden sich dafür einsetzen, daß sich ein solches Gedankengut in unserem Land nie wieder durchsetzen wird." (Landtag Mecklenburg-Vorpommern, Plenarprotokoll 6/3 vom 16.11.2011, S. 83 – 86)

Muslime sollen uns vor Inzucht retten
Zehn Jahre nach seinem Willkommensruf an einwanderungswillige Muslime, am 8. Juni 2016, forderte Schäuble als Bundesfinanzminister in einem Interview mit der ZEIT einen neuen Umgang mit Afrika und der arabischen Welt. Seit dem Beginn des vergangenen Jahres waren, wie erinnerlich, gerade mehr als eine Million kulturfremder Migranten nach Deutschland geströmt und hatten viele Behörden und Einsatzkräfte an den Rand ihrer Kräfte gebracht. Desungeachtet hielt Schäuble von einer Abschottung gegen Einwanderung auch in dieser Situation rein gar nichts: "Die Abschottung ist doch das, was uns kaputt machen würde, was uns in Inzucht degenerieren ließe. Für uns sind Muslime in Deutschland eine Bereicherung unserer Offenheit und unserer Vielfalt."

Vom Schutz der ethnischen und nationalen Identität durch Abwehr massenhafter Einwanderung einerseits zum Schutz des eigenen Landes vor inzestuöser Degeneration durch Beförderung einer solchen Einwanderung andererseits, und das alles in wenigen Jahren – das ist schon eine Leistung, die nicht leicht zu toppen ist.

Leitkultur als ausgrenzender Kampfbegriff
Am 29. April 2017 versuchte Thomas de Maiziere, der als Bundesinnenminister für das mangelnde Grenzregime und die erfolgte Masseneinwanderung ressortmäßig verantwortlich war, im Vorfeld der Bundestagswahl den Begriff der Leitkultur für den Wahlkampf erneut zu mobilisieren: "Über Sprache, Verfassung und Achtung der Grundrechte hinaus gibt es etwas, was uns im Innersten zusammenhält, was uns ausmacht und was uns von anderen unterscheidet. Ich finde den Begriff 'Leitkultur' gut und möchte an ihm festhalten." Mehr noch: de Maiziere verstand sich zu Ausführungen, die, wenn sie von jemand gekommen wären, der es damit nicht nur wahltaktisch gemeint hätte, geradezu einen Aufstand ausgelöst hätten: "Wir sind Kulturnation. Kaum ein Land ist so geprägt von Kultur und Philosophie wie Deutschland. Deutschland hat großen Einfluß auf die kulturelle Entwicklung der ganzen Welt genommen. Bach und Goethe 'gehören' der ganzen Welt und waren Deutsche." Im Blick auf diejenigen, "die zu uns gekommen sind, die hier eine Bleibeperspektive haben, die dennoch aber eine solche Leitkultur weder kennen, vielleicht nicht kennen wollen oder gar ablehnen", äußerte er gar: "Bei denen wird die Integration wohl kaum gelingen. Denn zugehörig werden sie sich wohl nicht fühlen ohne Kenntnis und jedenfalls Achtung unserer Leitkultur."

Aber auch so schon meldete die Integrationsbeauftragte des Bundes, Aydan Özoguz, im Tagesspiegel vom 14. Mai 2017 heftigen Widerspruch an und nannte den Begriff der Leitkultur, den de Maiziere lediglich als "Richtschnur des Zusammenlebens in Deutschland" verstanden wissen wollte, "einen ideologisch beladenen Kampfbegriff". Sobald dieser Begriff inhaltlich gefüllt werde, gleite die Debatte ins Lächerliche und Absurde ab, die Vorschläge verkämen zum Klischee des Deutschseins. Diese Gefahr besteht – wie bei vielen anderen Selbstverständlichkeiten des Lebens auch – in der Tat. Aber die Begründung der Integrationsbeauftragten lautete anders: "Eine spezifische deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar." Kulturelle Vielfalt mache "die Stärke unserer Nation als eine offene Gesellschaft aus". "Globalisierung und Pluralisierung von Lebenswelten" führten "zu einer weiteren Vervielfältigung von Vielfalt". Kurz: "Die Beschwörung einer Leitkultur schafft ... nicht Gemeinsamkeit, sondern grenzt aus. Sie gießt Öl ins Feuer, um sich selbst daran zu wärmen

Erhaltung des Eigenen ist nationalsozialistisch!
Nun hatte freilich die AfD in ihrem am 22./23. April 2017 beschlossenen Wahlprogramm gerade den "Erhalt des eigenen Staatsvolks" zur "vorrangigen Aufgabe der Politik und jeder Regierung" erklärt und sich zur "deutschen Leitkultur", beruhend "auf den Werten des Christentums, der Antike, des Humanismus und der Aufklärung", bekannt (unter 7.1). Diese Leitkultur umfaßt", heißt es dort weiter, "neben der deutschen Sprache auch unsere Bräuche und Traditionen, Geistes- und Kulturgeschichte ... Die Ideologie des 'Multikulturalismus' gefährdet alle diese kulturellen Errungenschaften." Aufgrund dieses Programms war die Partei, obwohl aus allen Rohren auf sie geschossen wurde, aus dem Stand zur stärksten Oppositionspartei gewählt worden. Einmal im Parlament, sorgte sie dafür, daß hier seit langem wieder einmal tatsächlich opponiert wurde. Unter anderem sorgte sie dafür, daß der "Global compact for migration", den die Bundesregierung klammheimlich über die Bühne zu bringen gedachte, obwohl er den vielen Deutschlandabschaffern innerhalb und außerhalb des Parlaments eine willkommene Argumentationshilfe brächte, in das Licht der Öffentlichkeit gerückt wurde.

Alexander Gauland, Fraktionsvorsitzender der AfD, wies am 8. November im Bundestag darauf hin, daß hier aus scheinbar unverbindlichen Erklärungen auf schleichendem Weg womöglich die Migration an jeden Ort der Wahl "zu einem Menschenrecht" gemacht werden könnte, "das Staatenrecht übersteigt und zu Völkergewohnheitsrecht wird". Und er deutete an, daß dies von vielen gewollt sei: "Millionen von Menschen aus Krisengebieten werden angestiftet, sich auf den Weg zu machen. Linke Träumer und globalistische Eliten wollen unser Land klammheimlich aus einem Nationalstaat in ein Siedlungsgebiet verwandeln." (BT Prot, 61. Sitzung vom 8.11.2018, S. 6806 f)

Es dauerte nur wenige Tage, bis Friedrich Merz – also eben derjenige, der den Begriff der Leitkultur in der politischen Debatte zuerst hatte heimisch machen wollen – auf seine Weise darauf reagierte. Nunmehr wollte er etwas anderes, nämlich die Bundeskanzlerin, die erklärt hatte, für den Parteivorsitz nicht mehr zu kandidieren, als Vorsitzender der CDU beerben. Und für diesen Zweck gedachte er sich bei seinen Parteifreunden am besten dadurch zu empfehlen, daß er die AfD in einem Interview mit dem WDR am 12. November nichts weniger als "offen nationalsozialistisch" nannte. Die Bewahrung der nationalen Identität, 1996 ein unveräußerliches Menschenrecht, war damit auf hoher politischer Ebene zum unverhüllten Ausdruck nazistischer Gesinnung – also des Schlimmsten, was es in Deutschland gibt – verkommen.

Wenn zufällig ein Chinese diese Ansammlung von Zitaten zu Gesicht bekommt, wird er sich vermutlich kringeln vor Lachen. Liest sie ein Tibeter, wird ihm ein Licht aufgehen über die wahre Natur der deutsch-tibetischen Völkerfreundschaft. Der Durchschnittsdeutsche jedoch weiß, daß es noch immer gut gegangen ist.