Massenzuwanderung im Spiegel von Moral, Recht und Politik

Aus: MUT 51. Jg. (2016). Nr. 575, S. 74 – 92

I. Die allgemeine Lage
1. Nach dem Fall des „eisernen Vorhangs“ und im Gefolge des Jugoslawienkriegs wurde Deutschland bereits Anfang der 90er Jahre von einer Flüchtlingswelle aus dem ehemaligen „Ostblock“ überschwemmt, die das Land in Aufregung und Unruhe versetzte.1 Arnulf Baring sprach damals davon, wir Deutsche müßten „nicht nur allein, sondern auch in unseren Allianzen darüber nachdenken, was wir bei einer Masseneinwanderung verzweifelter, verelendeter Menschen unternehmen werden. Es k[önne] ja durchaus erforderlich werden, dieses EG-Europa gegen eine sintflutartige Zuwanderung aus den verschiedensten Himmelsrichtungen zu schützen. Gerade wir Deutsche müß[t]en vorausschauend über denkbare Zuspitzungen diskutieren, ehe sich Notstände in unserer Nähe bilden, dann explosionsartig entladen. Sonst w[ü]rden wir in Panik geraten und falsch reagieren.“2

Eine solche Diskussion fand damals nicht statt. Wohl aber stieg 2014 – dieses Mal aus anderen Gegenden der Welt – die Zahl der Migranten erneut an, in der Folge sogar weit über die früheren Dimensionen hinaus. Dafür können unterschiedliche Ursachen namhaft gemacht werden. Einmal die, daß deutsche Regierungen seit Jahren nach vielen Seiten hin ein häufig undifferenziertes Interesse an Zuwanderung signalisiert und damit den Blick potentieller Migranten auf Deutschland gelenkt haben. Für einen starken Schub sorgte der kriegerisch bedingte Zerfall von Staaten wie Afghanistan, Irak, Libyen und zuletzt Syrien. Hinzu kamen die widrigen Lebensbedingungen in Balkanstaaten wie Albanien, dem Kosovo und Montenegro,3 aber auch in anderen Regionen. Ein weiterer Faktor war die Bevölkerungsexplosion in Afrika samt den dadurch verstärkten ethnischen und religiösen Auseinandersetzungen. Andere Aspekte bewegen sich einstweilen noch im Bereich des Spekulativen. Nach dem Schengener Grenzkodex,4 dem die meisten EU-Staaten beigetreten sind, wäre es an sich die Aufgabe der am Rande des Beitrittsgebiets gelegenen Staaten wie Griechenland, Italien, und Spanien gewesen, die Außengrenzen des Schengenraums vor illegalen Zuwanderern zu sichern. Der Zustrom schwoll jedoch in kurzer Zeit derart an, daß Griechenland und Italien sich damit überfordert sahen.5 Man verlegte sich hier zunehmend darauf, die Migranten unkontrolliert herein- und in Richtung auf das Land ihrer Wahl – meist Deutschland oder Schweden – weiterreisen zu lassen, gewissermaßen also „durchzuwinken“. Ende August 2015 schloß sich das von zahllosen Zuwanderern überrannte Ungarn durch einen Grenzzaun nach Serbien hin ab und stoppte kurz darauf auch den Zugverkehr nach Österreich. Aufgrund einer Telekonferenz, an der die deutsche Bundeskanzlerin, der österreichische Bundeskanzler und der ungarische Ministerpräsident beteiligt waren, traf die Bundeskanzlerin am 4. September die Entscheidung, die in Ungarn festsitzenden Migranten über Österreich ungehindert nach Deutschland einreisen zu lassen.6 Infolge dieser Entscheidung und zusätzlich unterstützt durch weitere Öffnungssignale der Kanzlerin7 schwoll der Strom, der seinen Lauf nunmehr zum Teil über andere Länder nahm, zu einer Dimension an, die überkommene Vorstellungen sprengte.

2. Gleichwohl zeigte das Barometer der öffentlichen Meinung in Deutschland, anders als zu Beginn der 90er Jahre, zunächst ein ausgedehntes Stimmungshoch an. Auf alle erdenkliche Weise war den Menschen jahrelang eingeschärft worden, vermehrte Zuwanderung und ethnische Pluralisierung positiv zu bewerten. Von seiten der Wirtschaft etwa war ein Fachkräftemangel beklagt worden, der angeblich nur auf diesem Weg zu beheben sei. Andere hatten davor gewarnt, daß der grassierende Geburtenschwund ohne Zuwanderung zu unüberwindbaren Problemen bei den Systemen der sozialen Sicherung führen würde. Wieder andere sahen in jedem Fremden per se eine Bereicherung in einem sonst hoffnungslos tristen Land. Ein unterschwelliges Motiv dürfte bei vielen darin bestanden haben, sich durch die unbegrenzte Aufnahme aller, die kommen wollten, von alten Schuldkomplexen befreien zu können. Genau umgekehrt, wie man vor Zeiten zahllose Juden vertrieben und ermordet hatte, sollte nunmehr unterschiedslos jeder des deutschen Schutzes teilhaftig werden können. Wer auch immer Zugang zur Meinungsbildung hatte, versuchte den Menschen eine multikulturelle Gesellschaft schmackhaft zu machen. Von einem früheren Bundespräsidenten war die Bundesrepublik Deutschland umstandslos zur „bunten Republik“ erklärt worden.8 Patriotische oder gar nationale Töne wurden mit abwertenden Konnotationen versehen. Der Begriff des „Volkes“ wurde, wo immer es ging, durch den der „Bevölkerung“ ersetzt. Migranten aus aller Welt wurden zu „Flüchtlingen“ erklärt, gleichgültig, aus welchen Gründen sie kamen. Das Ganze gipfelte in einer von offizieller Seite eingeforderten „Willkommenskultur“, die langfristig gesehen nur in einer Verabschiedung der überkommenen Gesellschaft enden konnte. Ein solches Ende wurde von vielen tatsächlich herbeigewünscht. Kritiker der skizzierten Entwicklung wurden daher unbesehen als fremden- oder ausländerfeindlich diffamiert und sozial ausgegrenzt. Politische Aktivisten des Mainstream beherrschten mit Parolen wie „Niemand ist illegal“, „No border, no nation“ oder „Nie wieder Deutschland“ die Straße und brachten unter passiver Assistenz der anwesenden Ordnungskräfte jede andere Meinung durch Lärm oder Gewalt zum Verstummen. Das Resultat von all dem war, daß die ankommenenden Menschenströme von vielen in einem wahren Rausch der Begeisterung empfangen wurden. Auf den Bahnhöfen standen freiwillige Helfer mit Transparenten „Refugees welcome“, mit Blumen, Ballons und Teddybären bereit und bemühten sich auf das Rührendste um die Versorgung der Ankömmlinge.

Ohne Begeisterung wäre diese Aufgabe auch nicht zu bewältigen gewesen. Denn es kamen Massen, mit denen noch vor kurzem niemand gerechnet hatte. In den ersten Monaten des Jahres 2015 schätzte man die Zahl der Neuankömmlinge für das laufende Jahr auf 300.000. Dann war von 450.000, bald darauf von 600.000 die Rede. Im August nannte die Bundesregierung die Zahl 800.000. Anfang Dezember wurden die registrierten Asylbewerber offiziell auf eine Million beziffert, während andere bereits von 1,5 Millionen sprachen.9 Verläßliche Angaben waren freilich kaum zu haben, weil viele Migranten nicht registriert wurden, womit der Überblick auch für die Behörden verloren ging.10 Absehbar war allerdings, daß der Zustrom von allein nicht abreißen würde und daß bereits wegen des zu erwartenden Familiennachzuges noch die mehrfache Menge nachkommen würde. Aufgeschreckt durch die Dimension der dadurch zu erwartenden Probleme, meldeten sich zunehmend Kritiker zu Wort und fragten besorgt, wohin das führen solle. Unbeirrt hiervon ließ die Bundeskanzlerin verlauten, daß das Recht auf Asyl keine Obergrenze kenne, und wiederholte anstelle eines konkreten Lösungsvorschlags ihre schon vorher ausgegebene11 Parole: „Wir schaffen das.“12 Diese wurde schnell zu einem Mantra ihrer Asylpolitik – ähnlich wie das vielbejubelte „yes, we can“ des amerikanischen Präsidenten Obama vorübergehend zum Aushängeschild der US-amerikanischen Politik geworden war.

3. Die Flüchtlingskrise, wie sie schnell genannt wurde, obwohl viele der Migranten keineswegs Flüchtlinge im Rechtssinn waren, betraf und betrifft nach wie vor eine für Deutschland, aber auch für das Vereinte Europa existentielle Frage. Entsprechend gespalten sind die Meinungen. Aus den Reihen der Kritiker des offiziellen Kurses, die sich freilich meist nur außerhalb der Mainstreammedien Gehör verschaffen konnten, waren nicht selten Anspielungen auf die Völkerwanderung und an das antike Rom zu hören, das unter dem Ansturm der massenhaft zugewanderten Goten untergegangen war.13 Die Anhänger des offiziellen Kurses priesen die Aufnahme der Zuwanderer dagegen als einen Akt christlicher Nächstenliebe, wie er auch der Politik gut anstehe. Ganz im Sinne des Satzes „Klopfet an, so wird euch aufgetan“,14 sollten unterschiedslos alle hereingelassen werden, die kommen wollten. Dietmar Bartsch, der Fraktionsvorsitzende der Partei „Die Linke“, die sonst nicht für Bibelsprüche bekannt ist, zitierte am 25. November 2015 im Deutschen Bundestag zur Beglaubigung seiner Position das Matthäusevangelium:15 „Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen.“ Und er fügte hinzu: „Heute heißt dies übersetzt: ‚Wir schaffen das.’“16

Von katholischer Seite her wurde gesagt, daß dieses Matthäus-Wort „keinerlei Interpretationsspielraum“ lasse und „alle Christen, Priester und Laien, Bischöfe und Parteichefs“ binde.17 Aber trifft dies tatsächlich zu? Folgt daraus wirklich, daß unser Staat unterschiedslos alle aufzunehmen hat, die Einlaß begehren? Oder ist es nicht vielleicht so, wie von anderer Seite bemerkt wurde, daß „die offizielle katholische und evangelische Kirche …in Deutschland aus[blendet], was hier passiert“, und daß „aktive Katholiken“, die über das, was sich im Gefolge dieser Einwanderung abspielt, schockiert sind, „sich von ihrer Kirche und den Bischöfen allein gelassen“ fühlen?18 Was läßt sich, nüchtern betrachtet, unter dem Aspekt der Moral, des Rechts und der Politik zu all dem sagen?

II. Moral könnte die Welt verändern, tut es aber nicht
1. Wer über Moral spricht, denkt dabei meist an ein Repertoire allgemein konsentierter Regeln guten Sozialverhaltens, deren Beachtung von jedermann erwartet wird und deren Verletzung öffentlicher Mißbilligung sicher ist. Aber das ist nicht Moral in dem von Kant gemeinten Sinn dieses Wortes, sondern Sozialmoral, die damit übereinstimmen, aber auch davon abweichen kann. Moral im eigentlichen Sinn – nämlich Individualmoral – ist vielmehr die autonome Steuerung des handelnden Subjekts nach Maßgabe seiner eigenen Überzeugung, also nach Prinzipien und Regeln, die es sich kraft seiner praktischen Vernunft selbst gesetzt hat. „Habe Mut, die deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, lautet nach Kant der Wahlspruch der Aufklärung.19 Der kategorische Imperativ zeigt jedem den Weg an, wie er zu einer moralischen Selbstbestimmung gelangen kann, die dem Urteil der Vernunft standhält: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“20 Übersetzt in die Umgangssprache heißt dies: Werde allgemein, 21 gib deine selbstsüchtigen Bestrebungen auf, fühle dich als integraler Bestandteil der ganzen Menschheit und handle demgemäß nur nach solchen Regeln, die zugleich für alle gelten sollen. Der kategorische Imperativ ist ein Kompaß für eine universalistische Ethik, die alle trennenden Schranken zwischen den Menschen überwindet, welcher Art sie auch sein mögen. Insofern gleicht er dem christlichen Prinzip, das dazu auffordert, den Nächsten zu lieben wie sich selbst.22 Täten dies alle, wäre die Welt eine andere.

2. Wirklich dazu bereit sind freilich nur wenige. Menschen wie Albert Schweitzer, der sein Leben als Arzt im Lambarene verbrachte, oder Mutter Teresa, die sich dem Dienst der Armen widmete, sind seltene Ausnahmen. Man kann das leicht testen, indem man konkret fragt: Wer von all denen, die in unseren Tagen wortreich eine „Willkommenskultur“ eingefordert haben, hat eigentlich notleidende Flüchtlinge bei sich selbst aufgenommen und versorgt? Verschwindend wenige und die Repräsentanten des Staates schon gar nicht. Vom Bundespräsidenten, der sich gern als Wortführer einer politisch korrekten Sozialmoral betätigt, war nichts dergleichen zu vernehmen. Der Bundeskanzlerin wurde von einem Massenblatt explizit die Frage gestellt: „Wären Sie persönlich bereit, bei sich zu Hause Flüchtlinge aufzunehmen?“ Ihre Antwort lautete: „Auch wenn ich großen Respekt für die Menschen habe, die das tun, könnte ich mir das für mich derzeit nicht vorstellen. Ich sehe es außerdem als meine Aufgabe an, alles zu tun, daß der Staat dieser Aufgabe so vernünftig wie möglich nachkommen kann.“23 Das aber heißt nichts anderes als: Ich nicht, wohl aber sollen die andern – repräsentiert durch den Staat – dies tun, und dafür werde ich nach Kräften sorgen. Das ist nicht Ausdruck einer verallgemeinerungsfähigen Moral, sondern einer Fernstenliebe, die persönlich zu nichts verpflichtet, verbunden mit der Bereitschaft, stattdessen den faktisch Nächsten mit den Folgen zu belasten. Ein Kritiker der Regierungspolitik hat das sarkastisch so ausgedrückt: „Liebe deinen Übernächsten wie dich selbst, und wenn dein Nächster geschlagen wird, dann reiche auch noch dessen andere Wange dem Peiniger hin.“24 Mit Moral im eigentlichen Sinn hat dies nicht unbedingt etwas zu tun. Jedenfalls dürfte es nur wenige geben, die mit dem Kompaß des kategorischen Imperativs in der Hand zu einem solchen Ergebnis gelangen würden. Mit dem Begriff der Sozialmoral kommt man dieser Haltung indessen näher.

III. Sozialmoral für alle – außer für mich
1. Die Sozialmoral beruht darauf, daß moralische Grundsätze, die von vielen subjektiv für zutreffend gehalten werden, als objektive Regeln deklariert werden, die für alle gelten sollen, und zwar auch dann, wenn keineswegs alle sie für richtig halten. Das Prinzip, das hierbei zur Anwendung gelangt, kann man zugespitzt auf die Formel bringen: Es ist nach unserer Auffassung geboten, sich so und so zu verhalten – also verhaltet euch entsprechend! Auf den Fall der Masseneinwanderung bezogen liest sich das so: Es ist richtig, Migranten in unbegrenzter Zahl aufzunehmen – also nehmt sie gefälligst auf! Die Moral hört dabei auf, Produkt eines sich autonom steuernden Subjekts zu sein, und wird zu einer Vorschrift für andere. Diese sollen sich entsprechend disziplinieren und nach den zwar nicht von ihnen, wohl aber von anderen für sie aufgestellten Regeln handeln. Natürlich kann derjenige, der eine bestimmte Sozialmoral propagiert, diese auch verinnerlichen und selbst danach handeln. Meist wird er dies in der Tat auch tun. Er muß es jedoch nicht bzw. dies ist allein eine Frage seiner persönlichen Moral, für die er niemand außer seinem eigenen Gewissen Rechenschaft schuldet. Wenn die von ihm propagierten Regeln der Sozialmoral richtig sind, werden sie ja nicht dadurch falsch, daß er selbst dagegen verstößt. So hat etwa die Forderung, die Bedürftigen nach Kräften zu unterstützen, sehr viel für sich; der Umstand, daß derjenige, der dafür wirbt, womöglich gar nicht daran denkt, von seinem eigenen Wohlstand etwas abzugeben, ändert daran nicht das mindeste.

2. Ob eine altruistische Sozialmoral christlich ist, wie man heute gern meint, läßt sich nicht allgemein beantworten, sondern hängt von den Umständen ab. An sich ist das Christentum auf die persönliche Nachfolge Christi und nicht auf die Verpflichtung anderer gerichtet. Seine Grundregel lautet nämlich: „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“25 und nicht etwa: „Lege dein Kreuz anderen auf und heiße sie, mir zu folgen“. Letzteres kann sehr unchristlich sein, denn „christlich ist es nicht, Forderungen zu erheben, die andere begleichen müssen“.26 Konkret: Wer Bedürftige in sein Haus aufnimmt, geht mit gutem Beispiel voran und zeigt einen Weg auf, der, wenn er von allen befolgt und von den Begünstigten honoriert würde, einen grundlegenden Wandel elementarer Verhaltensformen zur Folge hätte. Wer dagegen Bedürftige in die Häuser anderer einweist, gibt, wenn er sich selbst einer Einweisung entzieht, ein schlechtes Beispiel und sorgt eher dafür, daß alles im Prinzip so bleibt, wie es ist. Denn das Prinzip: „Hannemann, geh du voran, du hast die größten Stiefel an“, ist eben das, das den Lauf der Welt ganz überwiegend bestimmt.

Daß es gegenwärtig nicht oder jedenfalls nur ausnahmsweise um Einweisungen in fremde Wohnungen,27 sondern „nur“ darum geht, Migranten aus fremden Kulturen ins Land zu lassen und zu versorgen, ist dagegen kein Einwand. Denn dies macht nur einen graduellen Unterschied. Ebenso, wie man durch die unkontrollierte Aufnahme fremder Leute in sein Haus sein Hausrecht faktisch verlieren würde, verliert man durch die Aufnahme kulturfremder Menschen im Lande von einer gewissen Zahlenstärke an seine angestammte Heimat: Man kann sich in der gewohnten Sprache nicht mehr mit jedermann unterhalten, das Repertoire allgemein anerkannter Selbstverständlichkeiten wird kleiner, man findet immer weniger, welche die eigenen Erinnerungen und Überzeugungen teilen, man wird mit Verhaltensweisen konfrontiert, die irritieren oder verletzen, kurz: man wird zum Fremden im eigenen Land. Dieser Effekt verstärkt sich, wenn zusätzlich auch noch die Solidarität der eigenen Landsleute verloren geht, weil diese die schleichende Expatriierung forcieren. Daß dies keine Übertreibung ist, zeigt das Beispiel des früheren sächsischen Justizministers und ehemaligen Bundespräsidentschaftskandidaten Steffen Heitmann, der wegen der Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin nicht nur aus der Christlich Demokratischen Union ausgetreten ist, sondern gleichzeitig auch einen Brief an die Bundeskanzlerin gerichtet hat, der mit dem Satz endet: „Ich habe mich noch nie – nicht einmal in der DDR – so fremd in meinem Land gefühlt.“28 3. Die sozialen Lasten zu tragen, die mit einer altruistischen Sozialmoral verknüpft sind, ist kein Schicksal, das alle in gleicher Weise trifft; diese Lasten können vielmehr sehr ungleich verteilt sein. So auch in diesem Fall: Nicht alle kommen in die Lage, mit Zuwanderern von anderem Temperament, anderer Erziehung, anderen Überzeugungen und anderer Lebensart in ein und demselben Haus oder auch nur im selben Wohnviertel leben zu müssen, nicht alle müssen sich um bezahlbaren Wohnraum Sorgen machen, nicht alle konkurrieren mit Lohndrückern um Billigarbeitsplätze, nicht alle schicken ihre Kinder in Schulen mit einem Migrantenanteil von 80% u.a.m. Viele derer, deren Herz für alle Welt weit geöffnet erscheint, leben in gesicherten Verhältnissen, sie verfügen über das nötige Einkommen und Vermögen, können sich Häuser in ruhigen Gegenden leisten, gehen gehobenen Freizeitbeschäftigungen mit Ihresgleichen nach, schicken ihre Kinder in ausländerfreie Schulen usw. Kurz: sie leben in einer eigenen Welt, in der man von den Folgen, die ihre sozialmoralischen Forderungen für andere ausgelöst haben, so wenig merkt wie einst in der Waldsiedlung Wandlitz von den Lebensbedingungen des gewöhnlichen DDR-Bürgers.

Eine altruistische Sozialmoral ist ihrer Bestimmung nach sicher kein Deckmantel für Kantonisten, die Wasser predigen und Wein trinken. Es läßt sich jedoch nicht leugnen, daß sie gleichwohl die Möglichkeit dazu bietet. Alle Sozialmoral beruht auf einem Ensemble nicht formalisierter Regeln und Prinzipien. Wer diese verinnerlicht oder nicht verinnerlicht, wer daher auch selbst für die Folgelasten einsteht, hängt nicht zuletzt von der freien Bereitschaft der Akteure ab, nicht nur Moral zu predigen, sondern auch selbst zu praktizieren.

IV. Sozialmoralisch kontaminiertes Recht

Ein probates Mittel, diesem normativen Defizit abzuhelfen und die Sozialmoral unterschiedslos für alle verbindlich zu machen, besteht darin, sie in Rechtsform zu fassen und damit einem rationaleren Regime zu unterwerfen. Als Recht kann sie gegen jedermann zwangsweise zur Geltung gebracht werden. Denn das Kennzeichen des Rechts ist der organisierte Zwang, dem sich prinzipiell niemand entziehen kann.

1. Dem Inhalt nach umfaßt das Recht vieles, was kaum je zum Gegenstand einer sozialmoralischen Forderung werden dürfte. Umgekehrt jedoch kann alles, was Gegenstand der Sozialmoral ist, zu Recht gemacht werden. Daß die Übergänge zwischen der sozialmoralischen und der rechtlichen Verhaltensordnung fließend sind, zeigt sehr gut die Grundlegung des Rechts durch einen Klassiker wie Pufendorf. Nach Pufendorf lassen sich alle rechtlichen Verhaltenspflichten auf drei Grundpflichten zurückführen: 1) andere nicht zu schädigen, 2) sie als gleich zu achten und 3) sich ihnen gegenüber brüderlich zu verhalten, d.h. ihren Vorteil zu fördern, sofern es ohne eigenen Nachteil geschehen kann.29 In Anlehnung an die Schlagworte der französischen Revolution könnte man dafür die Formel „Unverletzlichkeit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ setzen. 30 Diese Rechtsprinzipien decken sich mit der modernen westlichen Sozialmoral, wie sie im Gefolge von Christentum, Humanismus und Aufklärung herrschend geworden ist. Was speziell die Brüderlichkeit, die Caritas, zu einem Rechtsprinzip macht, hat mit allem Nachdruck eines aus ärmlichen Verhältnissen aufgestiegenen Rechtsdenkers Johann Gottlieb Fichte auf den Begriff gebracht: Wer sich darauf beschränkt, andere nicht zu verletzen, sich aber gegenüber ihrer Not gleichgültig erweist, täuscht sich, wenn er meint, daß dies eine ausreichende Grundlage für ein Rechtsverhältnis sei. Einen Grund, die Rechte anderer zu achten und sich ihrer Verletzung zu enthalten, hat man erst da, wo der andere zum Garanten der eigenen Existenz geworden ist, wo er also im Falle existentieller Not einspringt und Beistand leistet. Alles andere ist in einem tieferen Sinn kein Rechtsverhältnis, sondern ein latenter Kriegszustand, der nur wegen der ungleichen Kräfteverhältnisse nicht in einen offenen Krieg übergeht.31

Daß der liberale Rechtsstaat, also der Staat des Privateigentums und der Vertragsfreiheit, der Unverletzlichkeit der Besitzenden und der formellen Rechtsgleichheit, im Laufe der Zeit zum sozialen Rechtsstaat erweitert worden ist, entbehrt daher nicht einer inneren Logik. Er ist damit einem Telos gefolgt, das im Begriff des Rechts selbst angelegt ist. Man hat den Sozialstaat häufig als Umverteilungsstaat charakterisiert, und das ist in der Tat sein ultimatives Kriterium. Zwar soll die Hilfe, die er leistet, primär Hilfe zur Selbsthilfe sein und findet daher vor allem Ausdruck in einer aufwendigen, jedermann zugänglichen Infrastruktur. Die dafür erforderlichen Mittel aber sollen überwiegend von den Besserverdienenden kommen, und wo es nicht anders geht, müssen diese in einem Sozialstaat für die weniger Begüterten sogar direkt aufkommen.

2. Die Wohltätigkeit des Sozialstaats hat freilich eine gleichsam naturgegebene Grenze. Diese hängt damit zusammen, daß auch der Sozialstaat ein Staat ist, und deckt sich daher mit der Grenze des auf Staatsgebiet und Staatsvolk beschränkten Staates überhaupt. Im Unterschied zur Sozialmoral, die auf allgemein menschlichen Prägungen wie Mitgefühl, Neigung und Gewohnheit beruht, findet das Recht seinen adäquaten Ausdruck in unverbrüchlichen Regeln und festgefügten Institutionen, zu denen auch der Staat selbst gehört. Jeder Staat aber ist primär für seine eigenen Bürger da und nicht für die Bürger anderer Staaten. Kein Staat, und sei er noch so wohlhabend, kann in gleicher Weise für alle Menschen sorgen, wenn er sich nicht hoffnungslos übernehmen will. Ein Staat, der die Herrschaft über seine Außengrenzen aufgibt und stattdessen auf Prinzipien einer grenzenlosen Humanität setzt, gibt sich daher faktisch selbst auf und wird auf längere Sicht auch seinen eigenen Bürgern nicht mehr viel zu bieten haben. Als Sozialstaat jedenfalls ist er unter den heutigen Voraussetzungen nicht möglich. Der frühere Bundesverfassungsrichter Di Fabio hat daher eindringlich gewarnt: „Ein offener Staat, der die Disposition über seine Grenzen aufgibt, mag offen sein, wird aber kein Staat bleiben können…[D]amit die Universalität der Menschenrechte sich im grundrechtlichen Raum entfalten kann, bedarf es der Partikularität eines prinzipiell abschließbaren Staatsgebietes.“32

Daran ändert auch der Umstand nichts, daß das System strikt gegeneinander abgeschotteter Nationalstaaten der Vergangenheit angehört. Wir leben heute in einer Welt, die durch die Schrumpfung von Raum und Zeit gekennzeichnet ist und in der auch die Staatsgrenzen durchlässiger werden. Was gestern noch weit entfernt schien, ist bedrückend nahe gerückt und beeinflußt uns auf vielfältige Weise, ohne daß wir uns dem entziehen können. Das ist auf die rechtlichen Perspektiven nicht ohne Einfluß. Gefragt sind daher Handlungs- und Organisationsformen, die auf die neuen Aufgaben abgestimmt sind. Auf der einen Seite bemüht man sich hier etwa um ein System internationaler Entwicklungshilfe, um den Ausbau von Handelsbeziehungen, den Austausch von Erfahrungen und die Kooperation bei der Lösung globaler Probleme; auf der anderen Seite formieren sich die überkommenen Nationalstaaten zu supranationalen Machtblöcken, um sich auf dem Weg in eine globalisierte Welt neben anderen Machtblöcken behaupten zu können. In diesem Kontext steht auch die europäische Einigung. Diese ist nicht zuletzt ein Versuch, auf die neuen Herausforderungen zu antworten und den Nationalstaat mit seinen eigenen Mitteln, nämlich durch eine an nationalstaatliche Strukturprinzipien angelehnte Organisation einer durch eine gemeinsame Kultur ohnehin verbundenen Völkergemeinschaft, zu überwinden. Die enormen Schwierigkeiten, mit denen dieses europäische Projekt von Anbeginn zu kämpfen hat, vermitteln eine Vorstellung davon, wie weit wir von einer rechtlich organisierten Weltgesellschaft entfernt sind, welche die Funktionen der überkommenen Staaten ersetzen könnte. Bis auf weiteres führt daher kein Weg daran vorbei, daß es eine allgemeinmenschliche Solidarität als Rechtsprinzip nicht gibt und nach Lage der Dinge auch kaum geben kann. Das hat aus kirchlicher Sicht mit aller nur wünschenswerten Klarheit Wolfgang Ockenfels zum Ausdruck gebracht: „Eine erzwingbare Gnadenpolitik verstößt gegen die Freiheit der Gläubigen wie der Ungläubigen.“ Aus der allen zukommenden Menschenwürde „ein Einwanderungsrecht für alle Notleidenden abzuleiten, ist Unsinn. Nicht der Staat ist der barmherzige Samariter, sondern die kirchliche Caritas.“33

V. Grundzüge der positiven Rechtslage
Allen Globalisierungstentenzen zum Trotz ist das positive Recht daher nach wie vor national oder jedenfalls europäisch verortet. International hat es nur geringe Durchsetzungschancen. Eine global orientierte Sozialmoral, wie sie im Zusammenhang mit der derzeitigen Massenzuwanderung vielfach gefordert und praktiziert wird, steht daher zu der prinzipiellen Raumgebundenheit des positiven Rechts quer. Sie tendiert dahin, Formen aufzuweichen, die für das positive Recht zwingend sind, und das Recht selbst zu ignorieren, weil dessen gebildeter Bau – um ein schroffes Wort Hegels zu gebrauchen – dem „Brei des Herzens, der Freundschaft und Begeisterung“34 im Weg zu stehen scheint. Die derzeitige Rechtslage begünstigt das freilich, weil sie dem Verständnis des Bürgers wenig entgegenkommt. Die Grundzüge sind in wenigen Strichen die folgenden.35

1. Nach dem Schengener Grenzkodex ist die Sicherung des Schengengebiets vor illegalen Zuwanderern den Mitgliedstaaten anvertraut, die an den Außengrenzen liegen, während im Gegenzug dazu die Personenkontrolle an den Binnengrenzen abgeschafft wurde. Beim Übertritt der Außengrenzen werden alle Personen kontrolliert, Drittstaatenangehörige sogar „eingehend“. Wer sich auf Schengengebiet befindet, kann dagegen praktisch unkontrolliert in andere Schengen-Staaten einreisen. Ein Aufenthaltsrecht genießt er aufgrund seiner Einreise jedoch nicht. Wenn ein Ausländer keinen Paß oder Paßersatz besitzt, ist seine Einreise nach Deutschland vielmehr illegal und strafbar.36 Diese Strafbarkeit ist der Grund, warum auch die „Schlepper“, die illegalen Grenzgängern Beihilfe leisten, strafrechtlich verfolgt werden können.37

Ausnahmsweise, nämlich im Falle einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung der inneren Sicherheit, kann ein Mitgliedstaat für einen begrenzten Zeitraum an seinen Binnengrenzen wieder Grenzkontrollen einführen.38 Mit diesem „Selbsteintrittsrecht“ kann u.a. auf ein Versagen der Außenkontrollen reagiert werden. Nach einem im Auftrag des Freistaats Bayern erstellten Rechtsgutachten des früheren Bundesverfassungsrichters Udo Di Fabio steht ein solcher Schritt jedoch nicht im Belieben der Regierung. Vielmehr ist der Bund danach „aus verfassungsrechtlichen Gründen… verpflichtet, wirksame Kontrollen der Bundesgrenzen wieder aufzunehmen, wenn das gemeinsame europäische Grenzsicherungs- und Einwanderungssystem vorübergehend oder dauerhaft gestört ist“.39

2. Das Asylrecht, das den Aufenthaltsstatus betrifft, liegt auf einer anderen Ebene und beruht in Deutschland auf einer doppelten Grundlage.40 Neben dem Grundrecht auf Asyl gem. Art. 16 a I GG ist der europäische Flüchtlingsschutz zu beachten, der unter anderem auf der Qualifikationsrichtlinie41 beruht und sich an die Genfer Flüchtlingskonvention anlehnt. Aus dem europäischen Recht ergibt sich desweiteren ein „subsidiärer Schutz“ für Personen, welche zwar nicht die Voraussetzungen eines primären Schutzes erfüllen, aber gleichwohl nicht abgeschoben werden dürfen.42 Freilich werden auch rechtsbeständige Abschiebeverfügungen aus unterschiedlichen Gründen nur in geringem Maße tatsächlich vollzogen. Wer deutschen Boden betreten hat, hat daher auch ohne primären oder subsidiären Schutz gute Chancen, dauerhaft bleiben zu können.

a) Das subjektive, d.h. einklagbare Grundrecht auf Asyl ist eine deutsche Besonderheit. Politisch verfolgten Personen wird es dadurch ermöglicht, Asyl nicht nur zu beantragen und zu genießen, sondern im Versagungsfall jahrelange Prozesse darüber zu führen. Unter den Begriff der politischen Verfolgung wird vieles subsumiert. Die vier apokalyptischen Reiter – Krieg, Hunger, Seuchen und Todesgefahr – gehören jedoch nicht dazu. Eine zweite Einschränkung ergibt sich daraus, daß sich seit 1993 (Stichwort: Asylkompromiß) niemand mehr auf das subjektive Asylgrundrecht berufen kann, der aus einem sicheren Drittstaat nach Deutschland kommt, Art. 16 a II 1 GG.43 Wer im Widerspruch dazu in Deutschland Asyl beantragt, darf – spezielle Regelungen vorbehalten – in den Drittstaat zurückgeschickt werden, aus dem er gekommen ist, Art. 16 a II 3 GG.

b) Vom Anwendungsbereich her ähnlich ist der europarechtlich fundierte Flüchtlingsschutz auf der Grundlage der Qualifikationsrichtlinie. Dieser ist für den Antragsteller auf den ersten Blick sogar günstiger, weil er den Ausschlußgrund der Einreise über sichere Drittstaaten nicht kennt. 44 Allerdings wird durch das sog. Dublin-Verfahren praktisch jedoch dasselbe Ergebnis erreicht. Während in der öffentlichen Diskussion – veranlaßt durch das Wort „Asyl“ – häufig das Grundrecht auf Asyl im Vordergrund steht, dominiert in der Praxis heute mit Abstand der europäische Flüchtlingsschutz, der richtlinienkonform in deutsches Recht umgesetzt worden ist. Das gilt namentlich für den subsidiären Schutz, den auch ein abgelehnter Antragsteller unter gewissen Voraussetzungen genießt, nämlich dann, wenn er in seinem Herkunftsstaat eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine Bedrohung durch willkürliche Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts zu befürchten hat.45 Der subsidiäre Schutz reicht also über den Flüchtlingsschutz im engeren Sinn hinaus, weil er sich auf Notlagen bezieht, derentwegen an sich kein Asyl gewährt wird. Flüchtlingsschutz und subsidiärer Schutz werden heute unter dem Begriff des „internationalen Schutzes“ zusammengefaßt.46 Von Bedeutung ist noch, daß in Deutschland sowohl dann, wenn die Anerkennung als Flüchtling als auch, wenn die Gewährung subsidiären Schutzes versagt wird, geklagt werden kann.47 Der europarechtlich fundierte Flüchtlingsschutz ist dem deutschen Asylgrundrecht also auch verfahrensmäßig angeglichen.

Die Zuständigkeit für die Prüfung der Voraussetzungen des internationalen Schutzes ist heute im Dublin III-Abkommen geregelt. Bei einem illegalen Grenzübertritt aus einem Drittstaat in einen Mitgliedstaat der EU ist danach dieser für die Überprüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig.48 Deutschland bräuchte sich auf eine Prüfung des internationalen Schutzes in den hier interessierenden Fällen daher ebensowenig einzulassen wie auf eine Prüfung des subjektiven Asylgrundrechts nach Art. 16 a II 1 GG. Wer in der EU internationalen Schutz beantragt, muß das nach dem Dublin III-Abkommen in dem Mitgliedstaat tun, in dem er erstmals die EU betreten hat. Tut er es in einem anderen Staat – z.B. in Deutschland, nachdem er über Ungarn und Österreich dorthin gelangt ist –, so kann er in den zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden.49 Allerdings kann der Antragsstaat das Verfahren auch selbst durchführen, auch wenn er an sich dafür nicht zuständig wäre.50

3. Wie diese Regeln in der fraglichen Zeit gehandhabt wurden, ist nicht leicht zu ermitteln.51 Fest steht zunächst, daß eine Rücküberstellung z.T. bereits deshalb ausschied, weil die in den Außenstaaten ankommenden Migranten von dort ohne die vorgeschriebene Registrierung nach Deutschland weitergeleitet wurden, so daß der Erstaufnahmestaat hier nicht feststellbar war.52 Fest steht weiter, daß das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) am 21. August 2015 die Rücküberstellung von Syrern, die in Deutschland internationalen Schutz beantragten, nach dem Dublin-Abkommen offiziell aussetzte und generell selbst in das Verfahren eintrat. Das war inoffiziell allerdings schon in der Vergangenheit geschehen.53 Die ausdrückliche Ankündigung dieses Vorgehens verstärkte jedoch den Druck auf die deutschen Grenzen und führte überdies dazu, daß sich wesentlich mehr Migranten als Syrer ausgaben, als von dorther kamen. Am 13. September wurde auf Weisung des Bundesinnenministers an der deutsch-österreichischen Grenze eine nach dem Schengensystem zulässige Personenkontrolle eingeführt.54 Kurz darauf soll der Minister Presseberichten zufolge die zuständigen Behörden indessen angewiesen haben, Migranten, die sich nicht registrieren lassen wollten, gleichwohl hereinzulassen.55 Eine solche Anweisung liefe auf die Inkaufnahme eines vieltausendfachen Rechtsbruchs hinaus.56 Ja, sie hätte bedeutet, daß die Bundespolizisten faktisch als Schleuser eingesetzt worden wären. Am 11. November wurde die Wiederaufnahme des gegenüber „Syrern“ ausgesetzten Dublin-Verfahrens angeordnet.57 Gleichwohl kamen, wie gemeldet wurde, jeden Tag immer noch ca. 3000 Migranten über die deutsch-österreichische Grenze, viele davon ohne Ausweispapiere.58 Die Behauptung des Bundesinnenministers, mittlerweile würden fast alle Flüchtlinge an der Grenze registriert, ist vom Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, öffentlich für unwahr und „schlichtweg Blödsinn“ erklärt worden.59 „Tatsächlich wird von den allermeisten Flüchtlingen nicht einmal der Name aufgeschrieben“, stellte Wendt fest. „Derzeit werden nur rund 10 Prozent der Flüchtlinge registriert.“ Der Rest werde aus Zeit- und Personalmangel mehr oder weniger durchgewunken. Einzig der Fingerabdruck werde überprüft, um zu sehen, ob die Flüchtlinge schon einmal registriert wurden.60 Aus einer Anfang Februar 2016 gemachten Äußerung des bayerischen Ministerpräsidenten geht überdies hervor, daß bis dahin „von über 60 bayerischen Grenzübergängen nur fünf kontrollier[t]“ wurden.61 – So die „Aktenlage“, soweit sie öffentlich bekannt geworden ist.

Was sich unmittelbar vor Ort abgespielt hat, steht nochmals auf einem anderen Blatt. Das erwähnte Rechtsgutachten Di Fabios folgert aus dem untersuchten Zahlenmaterial, „daß die gesetzlich vorausgesetzte wirksame Grenzkontrolle im europäischen Mehrebenensystem und für Deutschland zeitweise zusammengebrochen ist und die Länder sich dadurch mit einer beträchtlichen Krisensituation bis hin zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit konfrontiert sehen“.62 An anderer Stelle des Gutachtens heißt es: „Das geltende europäische Recht nach Schengen, Dublin und Eurodac wird in nahezu systematischer Weise nicht mehr beachtet, die einschlägigen Rechtsvorschriften weisen ein erhebliches Vollzugsdefizit auf.“63 Wie Di Fabio darlegt, gilt es „als offenes Geheimnis, daß in mehreren Mitgliedstaaten, wie z.B. Österreich, Slowenien, Kroatien oder Griechenland, Flüchtlinge, die in diesen Ländern nicht bleiben, sondern nach Deutschland weiterreisen wollen, in (staatlich) organisierten Transporten bis an die deutsch-österreichische Grenze gefahren werden. Von dort aus überqueren die Flüchtlinge dann eigenständig zu Fuß die Grenze.“64 Einige der wichtigsten Grenzübertrittspunkte lagen im Raum Passau, wo die Verhältnisse buchstäblich zu tanzen begannen. Am 2. Oktober 2015 erklärte der Regierungspräsident von Niederbayern in der Presse, „zurzeit geh[e] offensichtlich alles, und zwar problemlos. Unser Asylrechtssystem lös[e] sich gerade völlig auf.“65 Kurz darauf klagte der Passauer Landkreistagspräsident, daß derzeit „alle Regeln außer Kraft“ seien, das könne „man nicht mehr länger durchgehen lassen“; darüber seien sich alle Landräte einig.66 Der Passauer Landrat wandte sich an die Kanzlerin mit der Bitte, mit der Regierung in Wien ein Ende der „derzeit praktizierten Schleusung durch Österreich“ zu vereinbaren.67 Am 11. November verfaßten Mitarbeiter des dem Bundesinnenminister unterstellten Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) einen offenen Brief an den Leiter dieser Behörde, in dem sie u.a. den Vorwurf erhoben, in der Praxis werde sehenden Auges auf eine Identitätsprüfung verzichtet. Das stehe mit einem rechtsstaatlichen Verfahren nicht in Einklang. Der Wegfall der Identitätsprüfung „erleichter[e] zudem auch das Einsickern von Kämpfern der Terrormiliz IS nach Mitteleuropa und stell[e] ein erhöhtes Gefährdungspotential dar“.68

Zufällig am gleichen Tag fanden in Paris mehrere islamistische Terroranschläge statt, bei denen insgesamt 132 Menschen ums Leben kamen und 352 verletzt wurden. Zwei, wenn nicht gar drei der Attentäter waren über die „Balkanroute“ in die EU eingereist.69 Die französische Regierung schloß noch am selben Tag die Grenzen und verhängte den Ausnahmezustand, womit eine teilweise Aussetzung der Verpflichtungen nach der Europäischen Menschenrechts-konvention verbunden war.70 Wie eine Resümee nimmt sich aus, was Oskar Lafontaine, der saarländische Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, im Blick auf den importierten Terror bemerkte: „Grenzen haben eine Schutzfunktion. Wer Flüchtlinge aufnimmt, muß wissen, wie viele kommen und auch, wer kommt. Wenn das nicht gewährleistet ist, ist eine staatliche Ordnung nicht mehr möglich.“71

Politische Reaktionen auf das Pariser Attentat gab es auch auf völkerrechtlicher Ebene. Am 29. November beschlossen die EU und die Türkei einen „Aktionsplan“, um den Flüchtlingsstrom nach Europa einzudämmen. Der Türkei wurden 3 Mrd Euro in Aussicht gestellt, um die Lage der Flüchtlinge in der Türkei zu verbessern, außerdem die Aufhebung der Visumspflicht für türkische Staatsbürger und die Forcierung der Verhandlungen für einen EU-Beitritt.72 Um die aktuelle Situation zu entspannen, wurde also eine Erweiterung des europäischen „Raumes ohne Binnengrenzen“ um einen Staat in die Wege geleitet, der unmittelbar an einen der derzeit wichtigsten Spannungsherde angrenzt.

VI. Bilanz und Ausblick
Der Versuch, das Problem des Massenzuwanderung vor allem nach Maßgabe sozialmoralischer Kriterien in Angriff zu nehmen, dürfte im Ergebnis weniger zu einem Sieg der Moral als vielmehr zu einer Verwirrung der Begriffe und Maßstäbe und zu einer Erosion des Rechtsbewußtseins geführt haben.

1. Das letztere gilt sowohl im Hinblick auf das europäische als auch das deutsche Recht. Das Vereinte Europa versteht sich vor allem als eine Rechtsgemeinschaft. Nachdem dieser Gedanke bereits anläßlich der Euro-Krise und bei anderen Gelegenheiten schweren Schaden genommen hat, ist auch im Zusammenhang mit der Massenzuwanderung der Eindruck entstanden, daß das praktizierte Krisenmanagement durch gravierende Rechtsbrüche geprägt ist. Aus diesem Grund wandten sich am 4. Oktober 34 CDU-Politiker mit einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin, in dem sie rügten, daß „die gegenwärtig praktizierte ‚Politik der offenen Grenzen’ weder dem europäischen oder deutschen Recht“ entspreche noch im Einklang mit dem Programm der CDU stehe. Dementsprechend forderten sie umgehend eine „Wiederherstellung der Geltung des europäischen und deutschen Rechts“.73 Am 19. Januar 2016 folgte ein Brief von 44 Mitgliedern der CDU/CSU-Bundestagsfraktion an die Kanzlerin, in dem die Schreiber ihre Überzeugung zum Ausdruck brachten, „daß wir – möglichst rasch – wieder zur Anwendung des geltenden Rechts zurückkehren müssen“.74 Eine Woche darauf sprach der bayerische Ministerpräsident in einem Brief an die Kanzlerin von einer „akuten Gefährdung der innerstaatlichen Funktionsfähigkeit“ und ermahnte den Bund, „die Herrschaft des Rechts wiederherzustellen“.75 Im Februar 2016 setzte er öffentlich hinzu: „Wir haben im Moment keinen Zustand von Recht und Ordnung. Es ist eine Herrschaft des Unrechts.“76 Wer weniger zurückhaltend formulierte, sprach von einem „Putsch von oben…, in dessen Folge täglich gegen geltendes Recht und Verfassungsrecht verstoßen w[erde]“ und im Zusammenhang damit von „völlige[r] Rechtsblindheit und Rechtsfeindlichkeit staatlicher Stellen“.77 Wieder andere fühlten sich zu Reflexionen darüber veranlaßt, was von einem Staat, der das Recht mißachtet, sonst noch zu erwarten sei. „Natürlich fragen sich die Leute“, bemerkte ein Kritiker etwa, „ob ein Staat, der heute seine Grenzen nicht mehr schützt, morgen noch das Eigentum respektiert. Die zunehmende Beschlagnahme von privatem Eigentum trägt ihren Teil dazu bei. Warum soll der Bürger einem Staat vertrauen, der sich selbst nicht mehr ans Recht hält, wie man im Fall von Dublin in der Flüchtlingskrise oder bei Maastricht in der Euro-Krise sieht?“78

2. Die Zurücksetzung des Rechts zugunsten sozialmoralischer Räsonnements hatte sodann weitreichende politische Konsequenzen. In Deutschland führte sie dazu, daß die bereits in der Vergangenheit entstandene Kluft zwischen den angeblich „Guten“ und den angeblich „Bösen“ im Lande weiter vertieft und damit ein Gespräch zwischen beiden Gruppen unmöglich gemacht wurde. Die vom Bundespräsidenten im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise in Umlauf gesetzte Unterscheidung von „Hell-deutschland“ und „Dunkeldeutschland“79 wirkte nicht versöhnend, sondern verletzend, dämonisierend und spaltend. Was gutmenschlich gemeint war, hatte ungute Folgen.

Ein ähnlicher Prozeß, wie er sich in Deutschland zwischen den verschiedenen politischen Richtungen vollzog, zeichnete sich in Europa zwischen westlichen und östlichen Mitgliedstaaten ab. Ungarn, Tschechien, Slowakei und Polen waren nicht bereit, nach deutschem Vorbild eine „Willkommenskultur“ gegenüber jedermann zu inszenieren. Sie wollten die Autonomie, die sie nach Jahrzehnten der Unterdrückung errungen hatten, nicht unbedacht aufs Spiel setzen. Aber damit stellten sie sich nach dem Urteil deutscher Medien in ein sehr ungünstiges Licht. Diese ließen bei ihren Angriffen namentlich gegenüber Ungarn zum Teil jedes Maß vermissen. Was die deutschen Medien nicht sehen wollten, war, daß sich wohl eher Deutschland isoliert hatte. Die anderen EU-Staaten zeigten nämlich wenig Neigung, sich dem deutschen Vorschlag einer quotenmäßigen Verteilung aller Migranten auf die verschiedenen Mitgliedstaaten anzuschließen. Denn dies hätte bedeutet, daß Deutschland ohne Obergrenze alle hereinlassen und sie im Rahmen der Quotenregelung an andere weiterreichen könnte. Im Ergebnis führte daher die sozialmoralisch motivierte Politik Deutschlands zu einem europäischen Zerwürfnis80 bzw. – mit den Worten Di Fabios – zu einer „exzeptionelle[n] Erschütterung des europäischen Verbundgefüges“.81

3. Die Konzentration auf die Not des Einzelfalls ist leicht geeignet, den Blick von größeren Zusammenhängen abzulenken. Um eine Welt des Friedens und der Freiheit zu errichten oder auch nur, um das auf dem Weg dahin bereits Erreichte zu bewahren, gilt es jedoch gerade die übergreifenden Zusammenhänge im Blick behalten. Das betrifft etwa das Bevölkerungswachstum in den Krisenländern, das sich naturgemäß nicht an der Aufnahmekapazität der politisch und wirtschaftlich begünstigteren Regionen orientiert. Allein in Afrika ist die Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten auf über eine Milliarde gewachsen. Bei gleichbleibendem Trend werden bis Ende des Jahrhunderts 4,4 Milliarden prognostiziert.82 Wer sich die Lösung der hieraus resultierenden Probleme von einer freien Zuwanderung nach Europa verspricht, hat den Bezug zur Realität verloren. Auf der anderen Seite muß Europa, wenn es seine „europäische Identität“ bewahren will, mit seinem Bevölkerungsschwund selbst fertig werden. Egozentrische Lebensstile, die Abkehr von der Mehrkindfamilie und die Hochstilisierung der Abtreibung zum angeblichen Menschenrecht gehören zum Regelwerk einer sterbenden Gesellschaft. Deren Niedergang läßt sich vielleicht „bunt“ verbrämen. Die Frage ist jedoch, ob der Multikulturalismus die Zerstörung gewachsener Kulturen und der von ihnen geschaffenen politischen Systeme nicht beschleunigt. „Ob Europa sich kaputt macht?“, fragte so etwa der israelitische Journalist Eldad Beck zu Beginn des Jahres 2016 im Hinblick auf die Immigration aus moslemischen Gesellschaften, um fortzufahren: „Die klare Antwort kann nur lauten: Ja. Wir stehen, glaube ich, vor der Kapitulation des Westens.“83 Wer die Zukunft gestalten will, wird schließlich bedenken müssen, daß gesteuerte Migration längst zu einer Waffe der verdeckten Kriegsführung geworden ist, mit deren Hilfe sich Staaten destabilisieren und Konkurrenten schwächen lassen.84 Die Zukunft wird hier vielleicht noch manche Erkenntnisse zutage fördern.

Ein Realpolitiker wie der frühere tschechische Präsident Vaclav Klaus wird daher mit dem Satz zitiert: „Barmherzigkeit hat angesichts dieser Massenmigration als Argument keinen Platz mehr.“85 Weniger provokativ könnte man sagen: Gesinnungsethik ist für das Privatleben gedacht; in der Politik ist Verantwortungsethik gefragt. Im Widerspruch dazu ist die deutsche Einwanderungs- und Asylpolitik derzeit jedoch durch eine ausgeprägte Gesinnungsethik bestimmt. Das läuft auf eine moralische Infantilisierung der Politik hinaus, die in der Maxime zum Ausdruck kommt, Migranten dürfe man keine Grenzen setzen. Menschenwürde fällt jedoch, wie Rüdiger Safranski treffend bemerkt hat, „nicht vom Himmel, sondern setzt einen funktionierenden Staat voraus, der sie in seinen Grenzen garantieren kann.“ Das aber führt unweigerlich zu der Frage: „Wie kann man ein Staatsgebilde erhalten? Das gelingt“ – so Safranski weiter – „nur mit sehr strikten Regeln, sonst verliert der Staat seine integrierende, die Menschenrechte garantierende Kraft…Man muß die gesellschaftliche Kohärenz stabil halten, damit der Staat die Menschenrechte garantieren kann. Wenn man sich das nicht klarmacht, so ist das verantwortungslos: Man will helfen und schwächt dabei die Institutionen, die überhaupt helfen können.“86 Die Aufgabe einer sowohl vor der Zukunft wie auch gegenüber dem eigenen Volk verantwortbaren Politik dürfte daher vor allem darin bestehen, im Rahmen des Möglichen darauf hinzuwirken, daß jeder in seiner angestammten Heimat in Frieden und Freiheit und ohne Not leben kann. Kompetenten Politikern dürfte sich auch dadurch ein weites Betätigungsfeld eröffnen.

Nachtrag (April 2016):
Anfang März 2016 führte Österreich eine schon vorher angekündigte Obergrenze für Zuwanderer ein. Am 9. März schlossen die an der „Balkanroute“ gelegenen Staaten Ungarn, Slowenien, Kroatien, Serbien und Mazedonien (wovon die letztgenannten drei nicht dem Schengenraum angehören) ihre Grenzen für Reisende ohne gültigen Reisepaß und Visum. Dadurch ging der Migrantenstrom merklich zurück. Am 18. März einigten sich die Staats- und Regierungschefs der EU mit der Türkei, daß illegale Migranten, die ab 20. März auf den griechischen Inseln ankommen, in die Türkei zurückgeschickt werden. Im Gegenzug erklärte sich die EU bereit, für jeden zurückgenommenen syrischen Flüchtling einen anderen Syrer aus der Türkei aufzunehmen, dies allerdings nur bis zu 72 000 Personen. Auf diese Weise soll die illegale Immigration eingedämmt werden. Bis 2018 soll die Türkei dafür rund 6 Mrd Euro erhalten. Im Ergebnis ist die Grenzschließung der Balkanstaaten nachträglich durch die Schließung der EU-Außengrenze nach der Türkei hin ergänzt worden. Auf einen Verteilungsmodus für die neu Aufgenommenen hat man sich nicht geeinigt. Was den von Afrika her zur Jahresmitte zu erwartenden verstärkten Zustrom angeht, so bereitet Österreich dem Vernehmen nach die Schließung seiner Grenze nach Italien hin vor.