Gegen den Strich gedacht

Aus: MUT 50. Jg. (2015), Nr. 563, S. 24 – 36

Zu wissen, was man zu tun, zu sagen und zu denken hat, ist nicht leicht. Vermutlich kann niemand darauf verzichten, daß ihm andere dabei behilflich sind. Aber wir lassen uns ja auch gerne beeinflussen. Wer sieht, daß andere etwas tun, hält dies oft bereits für einen hinreichenden Grund, es ihnen nachzutun. Es gibt ganze Berufssparten, die davon leben und das nicht schlecht. Im Prinzip ist dagegen auch nichts einzuwenden; denn dadurch kommt Ordnung in das menschliche Miteinander. Die Orientierung am Vorbild anderer richtet sich jedoch nicht nur auf deren Tun, sondern auch auf ihr Denken. Auch unsere Kenntnisse und Urteile, unsere Meinungen und Vorverständnisse sind großenteils nicht unser eigenes Produkt, sondern fremde Ware. Wie schon die Sprache nicht unser Eigentum ist, so stammt auch das, was in sprachlicher Form unseren Kopf erfüllt, großenteils aus anderen Köpfen. Auch dies hat seinen guten Sinn; denn wenn alle völlig anders dächten, käme kaum etwas Gemeinsames zustande.

Freilich sind es nicht nur Wahrheiten, die auf diese Weise übernommen werden, sondern auch Irrtümer, Fehlurteile und Falschinformationen. Auch diese werden leicht zu Orientierungsmustern, wenn sie erst einmal von anderen für Wahrheiten genommen werden. Niemand kann alles selbst nachprüfen; jeder muß, ob er will oder nicht, sich auch ungeprüfte Annahmen anderer zu eigen machen. Dabei ist es ganz unvermeidbar, daß neben fundierten Urteilen auch Vorurteile verstetigt und Irrtümer auf Dauer gestellt werden. Das gilt vor allem für solche Thesen und Theorien, die den unmittelbaren Wahrnehmungshorizont übersteigen und daher nur schwer auf ihre Validität untersucht werden kön-nen. Hier können leicht Mehrheitsmeinungen entstehen, die keine andere Grundlage haben als die Übernahme und ständige Wiederholung von Mindermeinungen und deren Abschirmung gegen jede Kritik.

Wahrscheinlich hat sich jeder bereits einmal gefragt, was man dagegen unternehmen kann. Wie kann man sich gegen unerwünschte Folgen von Rezeptionen schützen, ohne die unser Denken gar nicht möglich wäre? Die meisten dürften darauf hoffen, daß sich immer wieder Querköpfe finden, die es reizt, gegen den Strich zu denken und vermeintlichen Selbstverständlichkeiten zu widersprechen. Dann zeigt sich vielleicht auch ohne unser Zutun, daß das scheinbar Selbstverständliche bisweilen höchst zweifelhaft ist und das scheinbar Unmögliche keineswegs weniger und manchmal sogar mehr für sich hat. Gegen den Strich zu denken sollte man aber nicht nur anderen überlassen. Man sollte es hin und wieder auch selbst einmal versuchen. Es öffnet die Augen und rückt Zusammenhänge in den Blick, die sonst leicht übersehen werden. Alles, was man dazu braucht, ist ein wenig Lust zum Widerspruch gegen den Mainstream. Aber wir wollen nicht lange darum herumreden, sondern gleich damit anfangen, damit man sieht, was es bringt.

Recht und Macht

Beginnen wir mit dem Verhältnis von Recht und Macht, einem Dauerthema der politischen Philosophie seit Anbeginn. Daß Macht ohne Recht stets Unrecht sei, hat man bereits tausendfach gehört. Kein Politiker versäumt es, dies bei jeder sich bietenden Gelegenheit herauszustellen. Juristen als Rechtsexperten halten sich geradezu für berufene Verteidiger des Rechts gegen die Anmaßungen der Macht. Ohne dieses Bewußtsein könnten viele nachts nicht mehr ruhig schlafen. Und klingt es denn nicht ausnehmend gut: Recht muß Recht bleiben, und die Macht hat sich dem Recht zu beugen? Wer hätte die Stirn, dies in Zweifel zu ziehen?

Wie abgemacht, wollen wir den Spieß jedoch einmal umdrehen, was in diesem Fall nicht schwer ist. Denn wer hätte noch nicht beobachtet, daß jeder, der über die nötige Macht verfügt, das Recht biegt, wie er es braucht? Und wer hätte nicht schon moniert, daß das Recht als Deckmantel dient, den die Mächtigen umhängen, wenn sie unter die Leute gehen? Rudolf von Jhering, einer der Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft, war davon überzeugt, daß es Verhaltenssteuerung durch Androhung oder Anwendung von Gewalt gab, lange bevor sich ein Rechtsbewußtsein in unserem Sinn entwickelt hatte. Nach seiner Auffassung war das Recht erst allmählich „aus der Gewalt auf dem Wege der Selbstbeschränkung“ entstanden und daher selbst nur eine rationalisierte Form der Gewalt. Alles andere wäre danach eine Illusion, gut, um die Menge still zu halten, aber nichts für Leute, die wichtigere Ziele vor Augen haben. So oft ein Politiker daher auch vom Vorrang des Rechts vor der Macht salbadert, so weiß er doch nur zu gut, daß er scheitert, wenn er nicht primär an der Vergrößerung seiner Machtposition arbeitet. Das Recht erscheint aus dieser Sicht als eine rotierende Größe. Wenn es sich bei der Durchsetzung vorrangiger Ziele nicht als förderlich erweist, versucht man es zu ändern, bis es „paßt“.

Mancher wird dem vielleicht entgegenhalten, daß die staatliche Macht gegenüber dem Bürger jedenfalls nur unter rechtsstaatlich geregelten Voraussetzungen zum Einsatz komme. Wer so argumentiert, ist freilich im Begriff, etwas Wesentliches zu übersehen: Das wirksamste Herrschaftsinstrument ist nicht etwa die Verfügungsgewalt über die Mittel körperlichen Zwangs – das ist lange vorbei –, sondern die Rechtsetzungsgewalt des Staates, also seine Definitionsmacht über die Rechtmäßigkeit des eigenen Handelns. Damit kann Unrecht zu Recht und Recht zu Unrecht erklärt werden, je nach Bedarf. Die Positivierung des Rechts verschafft denen, die über den Rechtsetzungsapparat verfügen, die Möglichkeit, ihre Macht fast beliebig zu entfalten und sich gleichzeitig den Anschein zu geben, sie rechtsstaatlich zu begrenzen. Gewiß steht auch der Gesetzgeber unter dem Gesetz, aber doch nur so, daß er sich jederzeit darüber erheben kann. Und gewiß geht alle Staatsgewalt vom Volke aus, aber meist geht sie schnurstracks zu einer Minderheit, die mit dem Volk nicht mehr viel gemein hat.

Wer dem Recht einen Eigenwert beimißt, für den dürfte der Positivismus das letzte Wort nicht sein. Er müßte das Natur- oder Vernunftrecht höherstellen. Aber wer wagt es denn auch nur, diese Worte heute noch auszusprechen? Und wer von denen, die so gern den Vorrang des Rechts vor der Macht preisen, geriete nicht in Verlegenheit, wenn er gefragt würde, was mit einem nicht-positiven Recht gemeint ist? Auf die Frage nach dem Sinn politischer Macht hätten alle sofort eine Antwort parat. Darauf darf man wetten.

Krieg und Frieden

Themenwechsel: Alle preisen den Frieden und verwerfen den Krieg. Nicht der Krieg, der Friede gilt heute als der Vater aller Dinge und der Krieg als Rückfall in verflossene Zeiten. Damals, so räumt man wohl ein, sei der Kampf gegen andere Stämme und Staaten womöglich die Bedingung des eigenen Überlebens gewesen. Heute indessen, im Lichte einer sich abzeichnenden globalen Weltordnung, sei Kooperation angesagt. Zum friedlichen Miteinander gäbe es keine Alternative mehr.

Doch blicken wir auf die Fakten: Nie war die Zahl der gewaltsam ums Leben Gekommenen höher als im vergangenen Jahrhundert, in dem der Krieg förmlich geächtet wurde. Potential und Perfektion der verfügbaren Waffen waren nie größer als heute, die Aufrüstung geht ungeachtet aller Abrüstungsverhandlungen weiter, ohne daß ein Ende abzusehen wäre. Die Theorie des gerechten Krieges, die man bereits glaubte in den Giftschrank voraufklärerischer Scheinrechtfertigungen verweisen zu können, erlebt ihre Wiederkehr und produziert neuartige Feindbilder. Wenn es – und sei es auch nur vorgeblich – um die Verwirklichung der großen Menschheitsideale, um Menschenrechte und Demokratie geht, wird die Anwendung kriegerischer Gewalt nach wie vor für legitim erklärt und die Auslöschung Unbeteiligter als Kollateralschaden entschuldigt.

Gewiß denkt heute niemand mehr daran, offen als Aggressor aufzutreten. Mit der Technisierung des Tötens hat der Angriff seine Ehre verloren und muß sich als Verteidigung verkleiden. Das macht die Sache komplizierter, als sie ursprünglich einmal war, aber keineswegs unmöglich. Der Gegner muß nur medienwirksam zum Schurken und damit zum eigentlichen Aggressor erklärt werden, dann können Kriege geführt werden, die man als Maßnahmen zur Erhaltung des Friedens, zum Schutz der Menschen vor unrechtmäßiger Gewalt und zur Einführung demokratischer Verhältnisse legitimieren kann. Hinter den Kulissen geht es um keine anderen Ziele wie ehedem.

Wahr ist freilich, daß die Formen der Auseinandersetzung differenzierter geworden sind. In einer Welt, in der alles mit allem zusammenhängt und jeder auf andere angewiesen ist, muß man nicht unbedingt ein ganzes Land in Schutt und Asche legen, um es in die Knie zu zwingen. Manchmal genügt es, es von seinen Bezugsquellen und Absatzmärkten abzuschneiden. Dadurch kann man Kriegsziele mit gewissermaßen friedlichen Mitteln erreichen. Krieg ist Frieden, und Frieden ist Krieg – so hätten sich die Kriegstreiber früherer Epochen den Frieden sicher auch gefallen lassen.

Was dem Bürger und was dem Staat gebührt

Ein Drittes: Der materielle Motor der Leistungsgesellschaft ist die Gewißheit, daß jedem das, was er hat und erwirbt, definitiv gehört und der Staat hiervon nur gewisse „Abgaben“ fordern dürfe, und zwar streng geregelt und durch rechtsstaatliche Prinzipien gedeckelt. Die Leistungsträger erscheinen in dieser Sicht als die Gebenden, der Staat als Nehmender, der den von ihm benötigten Anteil immer von neuem begründen muß. Mehr noch: der Staat ist danach für den Bürger da, nicht aber dieser für den Staat. Da lohnt sich Leistung, zweifellos.

Doch die Verhältnisse, sind sie auch wirklich so? Immerhin hat es zu allen Zeiten Akteure gegeben, die das, was andere erarbeitet hatten, grundsätzlich für sich in Anspruch genommen haben. In den antiken Gesellschaften geschah dies dadurch, daß man die arbeitende Klasse schlicht versklavte. Das Mittelalter schuf mit der Leibeigenschaft ein moderateres Ausbeutungsverhältnis, aber immerhin. Der Sozialismus schließlich gab vor, jede Form von Ausbeutung zu bekämpfen; gleichwohl war der Einzelne auch hier der Dispositionsgewalt einer Funktionärskaste ausgeliefert. Der Idee nach sollte seine Arbeitskraft dem gemeinsamen Wohl aller dienen; was er selbst zur Befriedigung seiner Bedürfnisse brauchte, sollte er von der sogenannten „Gesellschaft“ erhalten.

Anders als man meinen könnte, gehören diese Vorstellungen durchaus nicht der Vergangenheit an. Nach wie vor gibt es Politiker, die davon träumen, daß sie und allein sie darüber zu bestimmen hätten, was dem Bürger von seinem Geld bleibt und was er „dem Staat“ zu dessen freier Verwendung zur Verfügung stellen muß. Wahrscheinlich ist dieses Denken innerhalb der politischen Klasse sogar die Regel. Darauf deutet jedenfalls der Umstand hin, daß die Staatsquote mittlerweile bei 50 Prozent liegt. Eigentum und Vermögen werden also tendenziell vergemeinschaftet, um nach den Vorstellungen anderer als derjenigen, die es erwirtschaftet haben, verwendet zu werden.

In gewisser Weise ist die staatliche Umverteilung sogar das ungeschriebene Gesetz der egalitären Demokratie. Als das Bürgertum noch das Sagen hatte, ging es um die Sicherung und die Vermehrung des Erworbenen. In der modernen Demokratie aber liegt das Stimmgewicht bei der Masse. Dieser ist vor allem daran gelegen, sich durch den Zugriff auf das Geld der Besserverdienenden selbst zu verbessern. Kein Politiker, der gewählt werden will, kann es wagen, sich diesen Wünschen zu widersetzen. Unter Berufung auf das Wieselwort der „sozialen Gerechtigkeit“ muß er den immer weiteren Zugriff auf privates Vermögen propagieren, um das Erlangte über allerlei Kanäle an seine Klientel zu verteilen. Während der Bürger glaubt, was er besitzt und erwirbt, gehöre prinzipiell ihm, liegt sein Einkommen und Vermögen längst im Visier politischer Entscheidungsträger, die über das, was dem Bürger und was dem Staat zusteht, völlig anderen Vorstellungen anhängen.

Emanzipation und Herrschaft

Ein weiterer Punkt: Die Emanzipation der Frau ist aus der modernen Gesellschaft nicht wegzudenken. Sie ist gewissermaßen zu einer säkularen Monstranz geworden, die allen Prozessionen der Moderne vorangetragen wird. Niemand – außer Unverbesserlichen und Ewiggestrigen – bezweifelt, daß sich das Leben der Frauen dadurch unvergleichlich verbessert hat und daß weitere Verbesserungen folgen werden. Im Ergebnis erscheint die Emanzipation daher als ein Musterbeispiel für den Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit und zugleich auch in deren Realisation.

Aber wir wollen auch hier einmal gegen den Stachel löcken und fragen: Hat die Emanzipation von der Herrschaft des Mannes der Frau nicht die Unterwerfung unter neue Herrschaftsformen gebracht? Ursprünglich hatte die Frauenbewegung die rechtliche Gleichstellung auf ihre Fahnen geschrieben, dann aber die Frauen den Männern auch funktional gleichgestellt. Sie hat ihnen ihre traditionellen Rollenmuster genommen und genuin männliche verordnet, sie hat sie aus den häuslichen Zwängen befreit, zugleich aber den Zwängen des Erwerbslebens ausgesetzt. Der gesellschaftliche Aufstieg, den sich viele erhofften, ist nur einer Minderheit vorbehalten, nicht anders als bei den Männern auch. Von diesen unterstehen die meisten im Rahmen ihrer Berufstätigkeit einem strengen Regime, dem sie sich nicht entziehen können. Denselben Bedingungen werden im Zuge der Emanzipation auch Frauen unterworfen. Ihr bisheriger Lebenssinn wird ihnen genommen, ohne daß sie zum Ausgleich immer etwas Gleichwertiges erhalten. Leitbild der modernen Familie ist die Doppelverdienerehe, bei der die früher von den Frauen wahrgenommenen Aufgaben auf externe Institutionen verlagert sind und von Mann und Frau gemeinsam finanziert werden.

In seinem Buch „Die Frau und der Sozialismus“ hat August Bebel diese Entwicklung euphorisch beschrieben: In allen Bereichen übernimmt die „Gesellschaft“ und immer wieder die „Gesellschaft“ die Funktionen, die einmal Sache der Frau waren. Dadurch wird die Familie zwangsläufig auf eine Kümmerform reduziert. Stattdessen werden die Frauen in gesellschaftliche Produktionsprozesse eingeordnet, wo sie in derselben fremdbestimmten Weise „frei“ sind, wie dies die Männer bisher schon waren. Auf den Propagandabildern der sozialistischen Staaten wurden die weiblichen Arbeitssoldaten ausnahmslos vital und freudestrahlend dargestellt. Die sozialistische Realität jedoch war von einer Tristesse geprägt, die von der Erleichterung über die erreichte Emanzipation nicht viel spüren ließ. Im Vergleich dazu ist der Kapitalismus gewiß bunter. Aber auch hier tut man gut daran, die vielen Frauen, die durch eintönige Erwerbsarbeit zum Lebensunterhalt der Ihren beitragen müssen, nicht zu befragen, ob sie sich unter Emanzipation nicht etwas anderes vorgestellt haben als die Herrschaft der modernen Produktionsbedingungen über unterschiedslos alle Menschen.

Ehe für Gleichgeschlechtliche

Neues Thema: Homosexuelle müssen einander heiraten können, das ist für die meisten mittlerweile gar keine Frage mehr. Wenn Mann und Frau eine Ehe miteinander eingehen können, muß Gleichgeschlechtlichen dasselbe zugestanden werden. Alles andere wäre eine schlimme Diskriminierung und ein Verstoß gegen das oberste Gebot postmoderner Toleranz. Daher muß die Ehe ohne jeden Abstrich für Homosexuelle geöffnet werden. Wer dieses Dogma in Frage stellt, schließt sich aus der guten Gesellschaft aus.

Aber wieso nur? Warum in aller Welt verstößt es gegen den Gleichheitssatz, wenn Homosexuelle einander nicht heiraten können? Heterosexuelle können die Ehe doch auch nur mit einem Partner des anderen Geschlechts eingehen, das ist auch Homosexuellen unbenommen. Eben das, so heißt es, wollen sie jedoch nicht; sie wollen einen Partner des gleichen Geschlechts ehelichen. Indessen: was hat das mit Gleichberechtigung zu tun? Die Ehe mit einem Partner des gleichen Geschlechts war Heterosexuellen bisher doch auch nicht gestattet. Darum gehe es nicht, wird man erwidern; das Anstößige sei vielmehr, daß Heterosexuelle bekommen, wonach sie verlangen, Homosexuelle jedoch nicht. Verstehen wir recht: die Gleichbehandlung soll es erforderlich machen, jedem die Erfüllung aller Wünsche zu ermöglichen? Nein, werden die Verfechter der Homo-Ehe sagen, das natürlich nicht, jedenfalls vorerst nicht. Im Augenblick geht es nur um die monogame Ehe. Diese muß für Homosexuelle geöffnet werden, das ist alles. Dann aber, darf man schließen, geht es überhaupt nicht um Gleichbehandlung, sondern um die Dekonstruktion der Ehe. Diese soll nicht mehr das sein, was sie bisher war, weil einigen das nicht ins Konzept paßt.

Sie war nämlich, um das einmal zu sagen, die Rechtsverfassung der kleinsten Einheit der menschlichen Gattung. Diese kleinste Einheit ist nicht etwa „der Mensch“. Denn dieser ist, bevor er Mensch ist, zunächst einmal Mann oder Frau; keiner von diesen vermag die Menschheit allein zu repräsentieren. Die kleinste Einheit der menschlichen Gattung ist vielmehr eine Zweiheit. Nur Mann und Frau zusammen ergeben ein Bild von dem, was „der Mensch“ ist. Mit nur einem von beiden wäre die Geschichte der Menschheit schnell zu Ende.

Das ist der Grund, weshalb alle Kulturen eine besondere Rechtsform zur Organisation dieser zweigeteilten Einheit ausgebildet haben, die modernen Hochkulturen bekanntlich die monogame Ehe. Zweck dieser Institution ist nicht die Selbstverwirklichung sich liebender Ehegatten – davon mögen Romantiker schwärmen –, sondern die auf Dauer angelegte Organisation der Gesellschaft von unten her. Daß es Menschen gibt, die in dieses Raster nicht passen, weiß man. Daß sie das Recht haben, ihr Leben nach anderen Vorstellungen zu gestalten, spricht ihnen heute niemand mehr ab. Aber den Menschheitsbund der Ehe für Gleichgeschlechtliche zu öffnen, hat vor dem angedeuteten Hintergrund einen anderen Sinn. Es handelt sich dabei um einen Mosaikstein innerhalb eines großangelegten Sozialexperiments. Die gewachsenen Institutionen der überkommenen Gesellschaft sollen überwunden und die zwischenmenschlichen Beziehungen, ausgehend von der abstrakten „Person“, neu geordnet werden. Sicher müssen dafür noch einige andere Dinge auf den Prüfstand. Bei Aldous Huxley kann man sich kundig machen, welche.

Multikulturelle Gesellschaft statt Nationalstaat

Ein weiterer neuralgischer Punkt: die multikulturelle Gesellschaft. Auch gegen diese darf man heute nichts Nachteiliges sagen. Der politisch-medialen Elite dient sie als Hebel, um den Nationalstaat aus den Angeln zu heben, der mittlerweile nur noch für kollektiven Egoismus und Imperialismus, für Krieg und Rassenhaß steht. Den Zöglingen und Claqueuren dieser Elite erscheint sie als Eingangstor zum verheißenen Paradies einer besseren Welt, in der es keine Rassen, sondern nur noch Menschen gibt. So oder so ähnlich wird es in den Schulen gelehrt, von den Kanzeln verkündet und von den Medien endlos wiederholt.

Es ist noch nicht gar so lange her, daß man all dies noch anders hörte. Der Nationalstaat, hieß es da nämlich, schaffe Friede im Innern und halte interkulturelle Konflikte draußen; die multikulturelle Gesellschaft jedoch hole diese Konflikte herein und löse dadurch den Zusammenhalt zwischen den Bürgern auf. In der Tat ist Kultur nicht gleichbedeutend mit Essen, Trinken und Folklore, wo wir uns gern von anderen bereichern lassen. Sie umfaßt auch Dinge, welche die Menschen voneinander trennen, nämlich Sprache und Gewohnheiten, religiöse und moralische Überzeugungen, kurz: Lebensformen, die die Grundlage unseres Selbstverständnisses ausmachen und deren Infragestellung uns daher im Innersten trifft. Für die Konfliktträchtigkeit eines multikulturellen Staatsgebildes liefert gerade die deutsche Geschichte ein warnendes Beispiel: Mit der Reformation, also der Spaltung des christlichen Glaubens, entstand unter dem Dach des Deutschen Reiches eine Gesellschaft mit unterschiedlichen religiösen Kulturen. Die Folge waren Glaubenskriege, die das Land an den Rand des Ruins brachten. Erst mit zunehmender Säkularisierung und Marginalisierung der religiösen Gegensätze wurde der Boden bereitet für den Wiederaufstieg Deutschlands zu einem gleichberechtigten Partner im Spiel der europäischen Mächte.

Wer nicht bewußt die Augen verschließt, kann schwerlich übersehen, daß eine gemeinsame Kultur die Menschen einander näherbringt und sie füreinander eintreten läßt; kulturelle Verschiedenheit dagegen bewirkt häufig das Gegenteil. „Die multikulturelle Gesellschaft ist hart, schnell, grausam und wenig solidarisch“, hat Daniel Cohn-Bendit einmal eingeräumt, „sie ist von beträchtlichen sozialen Ungleichgewichten geprägt und … hat die Tendenz, in eine Vielzahl von Gruppen und Gemeinschaften auseinanderzustreben und ihren Zusammenhalt sowie die Verbindlichkeit ihrer Werte einzubüßen.“ Wie dieser Prozeß vonstatten geht, läßt sich in vielen Großstädten beobachten, wo sich die Auseinandersetzungen um so mehr häufen, je mehr die politisch-mediale Klasse davon schweigt. Bis man zum Paradies einer in sich unterschiedslosen Menschheit gelangt, muß daher wohl noch ein ausgedehntes Fegefeuer durchschritten werden.

Meinungsfreiheit und Gedankenkontrolle

Doch nun zur Rede- und Meinungsfreiheit, die zu den wichtigsten Prinzipien unseres Gemeinwesens zählt. Ungestraft äußern zu können, was man für richtig hält, gilt als der Grundpfeiler der Demokratie. Denn wie sollte ein öffentlicher Diskurs über grundlegende Fragen zustande kommen, wenn man mit seinen Ansichten hinter dem Berge halten muß? Wer sich gern mit Zitaten schmückt, versäumt selten, sich dafür auf einen Ausspruch Voltaires zu berufen: „Ich bin zwar anderer Meinung als Sie, aber ich würde mein Leben dafür geben, daß Sie Ihre Meinung frei aussprechen dürfen.“ Recht so! möchte man ausrufen.

Die Wahrheit ist freilich, daß Voltaire diesen Ausspruch nie getan hat, und richtig ist weiter, daß auch das Bekenntnis zur Meinungs- und Redefreiheit selten so gemeint ist, wie man vermuten könnte. Das Allensbacher Institut für Demoskopie hat unlängst festgestellt, daß die meisten Menschen in der Meinungsfreiheit nur die Absicherung ihrer eigenen Ansichten erblicken. Die Meinung anderer dagegen möchten sie, wenn diese ihrer eigenen widerspricht, am liebsten verboten wissen. Das prägende Merkmal unserer Gesellschaft scheint danach eher der Hang, wenn nicht gar Zwang zum Konformismus zu sein: Niemand soll das Recht haben, grundsätzlich anders zu denken und zu reden als man selbst. Das Spektrum der Freiheit wird möglichst auf die eigene Meinung beschränkt und allenfalls noch auf das, was dazu nicht allzu sehr in Widerspruch steht. Die Freiheit, die man meint, ist demnach nur die Freiheit für sich und seinesgleichen, verbunden mit Rede- und Meinungskontrolle für alle anderen.

Dazu paßt es, daß die Öffentlichkeit wie nie zuvor von anonymen Mächten in Beschlag genommen wird. Obwohl es keine Zensurbehörden gibt, legt sich seit Jahren eine Art Selbstzensur wie Mehltau über alle westlichen Gesellschaften. Ein Wort nach dem anderen wird mit einem Tabu belegt und darf bei Strafe der gesellschaftlichen Ächtung nicht mehr benutzt werden. Stattdessen werden Ersatzbegriffe oder Umschreibungen geschaffen, die das ursprünglich Gemeinte nur mit veränderter Bedeutung zum Ausdruck bringen. Da das Denken sich diesen sprachlichen Vorgaben anpaßt, kommt es ohne viel Zutun zu einer hochwirksamen Kontrolle der eigenen Gedanken. Keiner der vielen, die sich bereitwillig nach anderen richten, möchte sich dabei ertappen, daß er etwas denkt, was er nicht äußern darf, und deshalb denkt er lieber gleich so, wie man es von ihm erwartet.

Die wenigen, die sich dem widersetzen, werden mit altbewährten Mitteln zum Schweigen gebracht. Wie in der Zeit, als Gotteslästerung noch ein Straftatbestand war, werden für Meinungsdelikte auch heute wieder Strafen verhängt, z.T. härtere, als sie mancher Kapitalverbrecher zu gewärtigen hat. Kein Zweifel: auch in der freiesten Gesellschaft, die wir je hatten, darf man nicht alle Meinungen haben. Die Meinungs- und Redefreiheit ist nur für die richtigen Gedanken, für die falschen niemals.

Aufklärung und neue Unmündigkeit

Ein Letztes, bevor wir unsere tour d`horizont beenden: Niemand bezweifelt, daß die moderne Gesellschaft die vormoderne Priesterherrschaft abgeschüttelt hat. Im Zuge der Aufklärung haben die überkommenen Religionen ihren Einfluß verloren. Die Politik stützt sich heute nicht mehr auf den göttlichen Willen, sondern appelliert an die Einsicht der mündig gewordenen Bürger. Von nichts scheint die moderne Gesellschaft daher weiter entfernt zu sein als von der Herrschaft einer Priesterkaste. Mit einer anderen Auffassung hierzu würde man vermutlich Befremden, wenn nicht sogar Heiterkeit auslösen.

Wir wollen stattdessen jedoch einmal fragen, welche neue Kaste an die Stelle der geistlichen Macht getreten ist. Im Grunde fällt es nicht schwer, dies herauszufinden. Da jede Herrschaft sich durch die Erfüllung von Aufgaben legitimiert, die notwendig erledigt werden müssen, braucht man nur Ausschau zu halten, wer diese Aufgaben nunmehr wahrnimmt. Den Priestern der traditionalen Gesellschaft war die Funktion der Sinnvermittlung übertragen. Darauf kann auch in der modernen Gesellschaft nicht verzichtet werden. Auch hier bedürfen die Menschen der Welterläuterung und eines akzeptablen Selbstverständnisses, sie benötigen Lebensziele und Handlungsnormen. Da die meisten damit überfordert sind, muß es auch hier eine besondere Klasse von Sinnproduzenten geben, denen mit der Produktion von Lebenssinn unvermeidlich zugleich die Möglichkeit zuwächst, Herrschaft über die Sinnbedürftigen auszuüben.

Die modernen Sinnproduzenten zeichnen sich nicht mehr durch feierliche Kleidung und den Geruch den Weihrauch aus, sondern erwecken den Eindruck, Bürger zu sein wie alle. Wie Helmut Schelsky schon vor Jahrzehnten bemerkte, haben sie den Kirchen den Rücken gekehrt und stattdessen die Bereiche der Bildung und Information, also Schulen und Hochschulen, Presse und Rundfunk in Besitz genommen, von wo aus sich die Massen nachhaltig und flächendeckend erreichen lassen. Von hier aus verbreiten sie die neue säkulare Religion, die an die Stelle der früheren metaphysischen getreten ist. Der säkulare Himmel liegt nicht mehr im Jenseits, sondern in der Zukunft, und die säkulare Hölle bedroht die Menschen nicht mehr mit Feuer, sondern mit sozialer Kälte. Niemand vermag sich dem Einfluß dieser neuen Heilslehren zu entziehen. Sie bahnen sich ihren Weg durch zahllose unsichtbare Kanäle bis in den letzten Winkel eines jedes Gehirns. Längst hat sich auch der Staat auf eine Koalition mit diesen neuen Mächten eingelassen, weil er seine eigene Macht nur mit ihrer Hilfe sichern kann. Auf diese Weise ist eine Koalition von politischen Machthabern und säkularen Sinnvermittlern entstanden, die in manchem an das Zwiegespann von Kaiser und Papst, von Staat und Kirche, von Rechts- und Heilsherrschaft erinnert. Rationale Selbstbestimmung des Bürgers? Davon sind wir so weit entfernt wie in vormodernen Zeiten, über die man heute so gern die Nase rümpft.

Was bleibt? Was folgt?

Wir brechen unseren Versuch, einmal gegen den Strich zu denken, hier ab, obwohl man noch lange weitermachen könnte. Haben wir uns auf dem zurückgelegten Weg von überkommenen Verkrustungen lösen können? Haben wir vorschnell übernommene Vor- und Fehlurteile abgeschüttelt? Sind wir zu einem geläuterten, womöglich gar objektiven Standpunkt gelangt? Darauf hoffen gewiß alle, die sich auf eine gedankliche Entdeckungsreise einlassen. Näher besehen ist die Gewinnung von Erkenntnissen jedoch ein ambivalenter, nie endender Prozeß, der darauf beruht, daß ständig neue Hypothesen gebildet und in Frage gestellt werden. In diesem Sinn haben wir uns lediglich erlaubt, einige gängige Auffassungen als das zu nehmen, was sie allein sind, nämlich als Hypothesen, und haben sie mit Fakten und Gegenansichten konfrontiert. Urteile und Vorurteile, die einem solchen Widerspruch nicht standhalten, müssen modifiziert werden oder fallen. Dasselbe gilt jedoch auch von einem Widerspruch, der einer Replik nicht gewachsen ist. Nur durch ständige Gedankenexperimente dieser Art kann sich ein Bewußtsein davon entwickeln, wohin der Weg führt, auf dem wir uns befinden.

Außer Zweifel steht daher nur, daß eine Gesellschaft, die das Denken und Urteilen ihrer Bürger prägt, in ihrem eigenen Interesse nicht darauf verzichten kann, daß die durch sie vermittelten Auffassungen immer wieder auf den Prüfstand genommen. werden. Daß man gegen den Strich denkt, ist kein Sakrileg, sondern Voraussetzung und Kriterium einer offenen Gesellschaft, daß einem dies durch sanktionierte Tabus verwehrt wird, das Zeichen einer geschlossenen. Ohne Frage mußten viele der heute für selbstverständlich gehaltenen Meinungen einmal gegen den Widerstand einer früheren Mehrheitsmeinung durchgesetzt werden. Das kann es jedoch nicht rechtfertigen, sie dem Prozeß des trial and error zu entziehen und als nicht mehr hinterfragbare Wahrheiten zu behandeln. Eine Gesellschaft gewinnt nicht dadurch an Offenheit, daß sie ihre Glaubenswahrheiten austauscht und eine Verfolgungskultur mit umgekehrten Vorzeichen entwickelt. Offener wird sie allein dadurch, daß sie sich zu der einzigen politischen Kultur bekennt, die es gibt: zu der des unverstellten Diskurses.