Doppelte Loyalität als multikulturelles Phänomen?

Aus: Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte Bd. 3   (2001/02), S. 287 – 301

 

 

I.     Die christlich-jüdische Symbiose als Beispiel einer multikulturellen Gesellschaft

Mehr als alle Nachbarstaaten ist Deutschland in den letzten Jahrzehnten zu einem Einwanderungsland geworden. Das ist eine Entwicklung, die nicht zuletzt deshalb die Aufmerksamkeit auf sich zieht, weil viele der Immigranten aus Kulturen stammen, die sich von der, die sie hier vorfinden, nicht unerheblich unterscheiden. Nachdem man anfangs meist von der Erwartung ausgegangen war, daß sich die Zuwanderer im Laufe der Zeit integrieren würden, ist mittlerweile deutlich geworden, daß viele in Sprache, Sitte und Überzeugungen den Kulturen, aus denen sie kommen, verhaftet bleiben und dies bewußt auch so wollen. In manchen Städten sind wie von selbst neuartige Ghettos entstanden, in denen man sich in eine fremde Welt versetzt fühlt. Die multikulturelle Gesellschaft, die heute zunehmend die Gemüter beschäftigt, ist dadurch im Ansatz bereits Wirklichkeit geworden1.

 

Was diese Entwicklung für Staat und Gesellschaft bedeutet, wird in der öffentlichen Diskussion unterschiedlich beurteilt. Viele erhoffen sich davon eine Erweiterung des kulturellen Angebots, die dem gegenseitigen Verständnis dient und daher allen zugute kommt. Andere – und deren Zahl scheint zuzunehmen – befürchten statt dessen, daß ein allzu buntes kulturelles Mosaik die soziale Desintegration befördern könnte und auf diese Weise eher von Nachteil wäre. Unterschiedlich sind dementsprechend auch die Handlungskonzepte, an denen man sich orientiert. Auf der einen Seite wird gefordert, kulturelle Minderheiten mit dem Recht zur ungehinderten Erhaltung und Entfaltung ihrer Eigenart auszustatten; auf der anderen Seite dagegen plädiert man für die schnelle und umfassende Integration der dauerhaften Zuwanderer, um allen Spannungen frühzeitig entgegenzuwirken. Was in einer multikulturellen Gesellschaft tatsächlich geschieht, welche psychischen und sozialen Prozesse dadurch ausgelöst werden, verschwindet auf diese Weise nicht selten im Widerstreit unterschiedlicher Hoffnungen und Befürchtungen.

 

Das könnte um so auffallender erscheinen, als das bisher am besten dokumentierte Beispiel einer multikulturellen Gesellschaft ohne weiteres für jedermann zugänglich ist. Gemeint ist die jahrhundertelange Symbiose von christlicher und jüdischer Kultur in den Staaten Europas und hier vor allem in Deutschland. Bis hin zu der im 19. Jahrhundert erfolgten Assimilation war auch das Zusammenleben von Christen und Juden durch das Nebeneinander unterschiedlicher Kulturen geprägt. Wer sich für die Konflikte interessiert, mit denen in einer multikulturellen Gesellschaft zu rechnen ist, und nach den Gründen und Hintergründen fragt, die dabei zur Wirkung kommen, findet hier ein Modell vor, an dem sich all diese Fragen in Ruhe studieren lassen.

 

Freilich begibt man sich damit auf ein vermintes Terrain; denn was auch immer auf die Geschichte der Juden in Deutschland Bezug hat, wird heute im Lichte der Katastrophe gesehen, mit der diese Geschichte geendet hat. Das ist emotional leicht nachzuvollziehen: Wer sich mit einer Welt befaßt, die vor kurzem vernichtet worden ist, kann dieses Ende nicht gut aus seinem Bewußtsein verbannen. Ein Grund, die vielfältigen Erfahrungen, die hier abgelagert sind, in dem hier interessierenden Zusammenhang zu ignorieren, ergibt sich daraus jedoch nicht. In der folgenden Skizze soll daher einmal versucht werden, einige Quellen aus der christlich-jüdischen Geschichte zusammenzustellen, die das Nebeneinander unterschiedlicher Kulturen in ein und demselben Staat in einem sehr unbefangenen Licht erscheinen lassen.

 

Im Zentrum dieser Geschichte steht bekanntlich ein in immer neuen Spielarten sich äußernder Antisemitismus. Die gängige Meinung, daß es sich dabei um eine Art dauernden Unglücksfall oder um die Folge eines permanenten moralischen Versagens handelt, hat wenig für sich. Näherliegend dürfte es vielmehr sein, einmal der Frage nachzuspüren, ob der Antisemitismus nicht – zumindest auch – der Ausdruck von Abstoßungskräften war, wie sie im Prinzip jedes Nebeneinander von Angehörigen unterschiedlicher Kulturen hervorrufen kann2. Und weiter ist von Interesse, wie man dies früher beurteilte und über welche Konzepte man verfügte, um solchen Kräften entgegenzuwirken.

 

Dabei können wir den zeitlichen Rahmen im Hinblick auf die eigentliche Problematik, um die es hier geht, in engen Grenzen halten. Soweit die Konflikte, die das Nebeneinander von Christen und Juden begleitet haben, ausschließlich der Vergangenheit angehören, können sie hier außer Betracht bleiben. Das gilt einmal für die rassische Diskriminierung, die in der Geschichte des Antisemitismus nur eine kurze Periode ausmacht. Es gilt aber weiter auch für die Epoche des mittelalterlichen und des frühneuzeitlichen Ständestaates, in der ein gleichberechtigtes Nebeneinander unter dem Dach einer gemeinsamen Rechtsordnung nicht einmal angestrebt war. Der Gedanke eines Bürgerstaates, der ungeachtet der Religionszugehörigkeit prinzipiell alle Einwohner eines Landes umfaßt, zeichnete sich erst im Zuge der Aufklärung ab. Erst damit rückte die Aufnahme der Juden in den Staatsverband auf die politische Tagesordnung. Von da an aber ging es fast ein Jahrhundert lang um die auch heute noch aktuelle Frage, ob es nicht nur menschenfreundlich, sondern auch klug und sinnvoll ist, eine Bevölkerungsgruppe, die kulturell zum großen Teil einer eigenen Lebensform verhaftet ist, auf der politischen Ebene mit denselben Rechten auszustatten wie alle anderen auch. Vermutlich ist diese Frage nirgendwo sonst mit einer ähnlichen Intensität und Offenheit erörtert worden wie in der Zeit des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts.

 

Mit dem Übergang zu einer modernen und säkularen Gesellschaft war der überkommene Antijudaismus an sich überholt. Der Antisemitismus löste sich jedoch keineswegs auf. Er wurde vielmehr den rationalisierten Verhältnissen angepaßt und dadurch selbst „rationalisiert“. Dieser Vorgang ist es, der in unserem Zusammenhang vor allem die Aufmerksamkeit auf sich lenkt und auch aus heutiger Sicht einer eigenen Betrachtung wohl wert ist.

 

II.      Der Antisemitismus der Aufklärung

Zuvor ist freilich eine Begriffsklärung angezeigt, um Mißverständnissen vorzubeugen. Denn „Antisemitismus“ ist ein schillernder Begriff, der sehr unterschiedliche Erscheinungsformen aufweist.

 

Ohne Belang, wie bereits angedeutet, ist im folgenden der rassische Antisemitismus. Dieser ist erst im späten 19. Jahrhundert voll zum Durchbruch gekommen und hat in der Folge den vorhandenen, auf ganz anderen Grundlagen beruhenden Antisemitismus der Aufklärung und des beginnenden Nationalismus zu einem biologischen Überlegenheitswahn gesteigert und mit inhumanen Argumenten auf Dauer gestellt3. In dem Zeitraum, der uns hier allein interessiert, war diese Ideologie allenfalls in ersten Ansätzen vorhanden und daher praktisch bedeutungslos.

 

Der ursprüngliche Kern des Antisemitismus, der Antijudaismus, ist dagegen rein religiöser Natur. Daß die Juden nicht nur einer anderen Religion angehörten, sondern zudem auch als „Christi Verräter“ und Gottesmörder galten, diente lange Zeit als Rechtfertigung für ihre Ausgrenzung aus Staat und Gesellschaft. Es ist heute weithin üblich geworden, sich darüber in derselben Weise zu entrüsten wie über jede Form von Rassismus. Aber damit macht man es sich zu einfach; denn die moderne Toleranz gegenüber anderen Religionen beruht letztlich allein darauf, daß heute auch der Absolutheitsanspruch der eigenen Religion nicht mehr ernstgenommen wird. Wer selbst keine festen Überzeugungen hat, hat es naturgemäß leicht, die Überzeugungen anderer zu tolerieren. Für die überzeugten Anhänger verschiedener Religionen aber gilt nach wie vor, daß sie einander nicht lieben können. Das natürliche Verhältnis von Menschen, von denen jeder den fundamentalen Lebensentwurf des anderen in Frage stellt, dürfte an allen Orten und zu allen Zeiten mehr von Ablehnung als von Respekt oder Zuneigung bestimmt sein. Beispiele anzuführen, erübrigt sich hier.

 

Daß die Aufklärung einen eigenen, gewissermaßen staatstheoretischen Antisemitismus hervorbrachte4, der weder mit religiöser Unduldsamkeit noch mit Rassismus etwas zu tun hat, ist nach wie vor nicht allgemein bekannt. Gleichwohl ist im vorstehenden Zusammenhang nur dieser „aufgeklärte“ Antisemitismus von Interesse, weil nur ihm eine über den konkreten Anlaß hinausreichende Bedeutung zukommt. Diese besteht darin, daß hier erstmals Argumente formuliert wurden, die sich streng genommen nicht allein gegen die rechtliche Emanzipation der nicht assimilierten jüdischen Minderheit, sondern gegen die Akzeptanz auch anderer Formen soziokultureller Nebengesellschaften richteten. Daß ausgerechnet die Aufklärung, die sich die Befreiung des Menschen schlechthin zum Ziel gesetzt hatte, nicht nur von der Vernunftnatur aller Menschen, sondern auch von der sie trennenden Differenz unterschiedlicher Lebenswelten ausging, könnte leicht als widersprüchlich angesehen werden. In der Sache kann man darin aber eine Bestätigung dafür sehen, daß auch der moderne, auf verallgemeinerbare Prinzipien gegründete Staat noch etwas anderes ist als nur ein Durchgangsstadium zu einem unterschiedslosen Kosmopolitismus, insbesondere daß er noch auf anderen Voraussetzungen beruht als auf der Subsumtion abstrakter Personen unter eine gemeinsame Gesetzgebung.

 

III.    Das Argument der doppelten Loyalität

Bereits der äußere Verlauf der Entwicklung läßt erkennen, daß es während der Emanzipationsepoche um andere Probleme ging als in den rein konfessionell bestimmten Auseinandersetzungen früherer Zeiten. Nachdem der Streit um den Wahrheitsanspruch der verschiedenen Religionen von Lessing symbolisch für erledigt erklärt worden war, löste sich der Antisemitismus zwar nicht auf, aber er nahm eine andere Gestalt an – eine Gestalt freilich, die sich aus den Voraussetzungen des neuen Denkens selbst ergab. Hatte man den Juden bis dahin zum Vorwurf gemacht, daß sie hartnäckige Parteigänger einer anderen Religion seien, so wurde das „mosaische Bekenntnis“, wie man es jetzt nannte, den christlichen Konfessionen im Prinzip fortan gleichgestellt. Im Gegenzug wurde den Juden nun aber der enge soziokulturelle Zusammenhalt vorgehalten, den man unter ihnen feststellen konnte. Viele Beobachter, die von religiösen Vorurteilen frei waren, sahen das Judentum vor allem als einen eigenen, mehr oder weniger geschlossenen Sozialverband an, der diejenigen, die ihm angehörten, einem ähnlich umfassenden Regelsystem unterwarf wie der Staat. Ein Verband dieser Art, so meinte man daher, sei mit den Existenzbedingungen eines modernen Bürgerstaates unvereinbar. Ihren knappsten Ausdruck fand diese Auffassung in der Formel vom „Staat im Staat“, die bereits älteren Ursprungs ist, aber jetzt in kurzer Zeit zu einem geflügelten Wort wurde. Einige Zitate der exponiertesten Vertreter dieser Auffassung mögen genügen, um dies zu belegen.

 

So war es zunächst kein Geringerer als Kant, der im Judentum ausschließlich eine mit dem Staat konkurrierende politische Ordnung erblickte. Der jüdische Glaube war für Kant, „seiner ursprünglichen Einrichtung nach, ein Inbegriff bloß statutarischer Gesetze, auf welchem eine Staatsverfassung gegründet war“, das Judentum also „eigentlich gar keine Religion, sondern bloß Vereinigung einer Menge Menschen, die, da sie zu einem besondern Stamm gehörten, sich zu einem gemeinen Wesen unter bloß politischen Gesetzen, mithin nicht zu einer Kirche formten“. Das Judentum, so heißt es bei Kant weiter, sollte an sich „ein bloß weltlicher Staat sein, so daß, wenn dieser etwa durch widrige Zufälle zerrissen worden, ihm noch immer der ... politische Glaube übrig bleibt, ihn ... wohl einmal wiederherzustellen“5. Daß es Kant bei diesen Darlegungen nicht um religiöse Animositäten ging, ist offensichtlich. Was er herausstellen wollte, war vielmehr, daß das Judentum, wie er es sah, ein in sich geschlossener Sozialverband war ähnlich wie ein Staat.

 

Eine denkbar radikale Konsequenz aus dieser Betrachtungsweise zog Fichte in einer seiner frühen Schriften: „Fast durch alle Länder von Europa verbreitet sich ein mächtiger, feindselig gesinnter Staat, der mit allen übrigen im beständigen Kriege steht ...; es ist das Judentum.“6 Die Vorstellung, daß die Juden gleiche Rechte wie andere Bürger erhalten sollten, obgleich sie nach wie vor in einer Welt für sich lebten, wirkte auf Fichte geradezu beängstigend. „Fällt euch denn hier nicht der begreifliche Gedanke ein“, rief er aus, „daß die Juden, welche ohne euch Bürger eines Staates sind, der fester und gewaltiger ist als die eurigen alle, wenn ihr ihnen auch noch das Bürgerrecht in euren Staaten gebt, eure übrigen Bürger völlig unter die Füße treten werden?“ Allgemeine Menschenrechte müßten die Juden zweifellos haben. „Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel als das, in einer Nacht ihnen alle die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei.“7

 

Daß die „Sonderexistenz“ als traditionsgebundener Jude mit der gleichzeitigen Teilnahme an allgemeiner Rechtsgleichheit nur schwer vereinbar sei, war vor allem unter rechtskundigen Beurteilern eine verbreitete Überzeugung. Bekannt ist unter anderem, daß sich Savigny, einer der namhaftesten Juristen dieser Zeit, wenige Jahre nach dem preußischen Emanzipationsedikt von 1812 unverhüllt gegen die rechtliche Gleichstellung der Juden aussprach. In der Verleihung von allgemeinen Bürgerrechten an Juden - und das hieß damals, wie man im Auge behalten muß, allein an ungetaufte Juden - vermochte Savigny nichts anderes zu erkennen als „die unglückseligste Verwirrung politischer Begriffe“8.

 

Was war der Grund für solche und ähnliche Äußerungen, die uns heute bestürzend vorkommen? In erster Linie nicht religiöse Vorurteile, auch wenn diese hier und da zweifellos noch mit nachklangen. Entscheidend war vielmehr etwas anderes: Man mißtraute dem kollektiven Egoismus einer sozial geschlossenen Gruppe und machte sich Sorgen wegen der Folgen, die eine rechtliche Gleichstellung unter solchen Voraussetzungen nach sich ziehen konnte. Schopenhauer hat dies mit aller ihm eigenen Klarheit und Direktheit unverhüllt ausgesprochen. Die Skepsis, meinte er, komme daher, daß das Vaterland des Juden „die übrigen Juden“ seien: „keine Gemeinschaft auf Erden hält so fest zusammen wie diese“9. Um die Loyalitätskonflikte zu veranschaulichen, die ihm Sorge bereiteten, brachte er ein Beispiel: „Als vor ungefähr 25 Jahren im englischen Parlament die Judenemanzipation debattiert wurde, stellte ein Redner folgenden hypothetischen Fall auf: ein englischer Jude kommt nach Lissabon, woselbst er zwei Männer in äußerster Not und Bedrängnis antrifft, jedoch so, daß es in seine Macht gegeben ist, einen von ihnen zu retten. Persönlich sind ihm beide fremd. Jedoch ist der eine ein Engländer, aber ein Christ; der andere ein Portugiese, aber ein Jude. Wen wird er retten? – Ich glaube, daß kein einsichtiger Christ und kein aufrichtiger Jude über die Antwort im Zweifel sein wird. Sie aber gibt den Maßstab für die den Juden einzuräumenden Rechte.“10

 

Der Kern aller Besorgnisse war also letztlich soziokultureller Natur. Wer zusammen mit Seinesgleichen, so war damit gemeint, kulturell und emotional in einer eigenen Welt lebt, entwickelt zwangsläufig auch eine eigene Loyalität. Je nach ihrer Intensität können die persönlichen und emotionalen Beziehungen, die ihn mit Seinesgleichen verbinden, zu der abstrakten Rechtsgleichheit aller Bürger, auf der der moderne Staat aufbaut, in Widerspruch geraten. Nach ihrer rechtlichen Gleichstellung, so nahm man an, würden die in ihrer überkommenen Lebensform verhaftet gebliebenen Juden ihren Korpsgeist nämlich nicht ablegen, sondern weiterhin alles zuerst unter dem Gesichtspunkt beurteilen, ob es für ihre eigene „Nation“ von Vor‑ oder von Nachteil sei. Dieser „nationale Zusammenhalt“ wurde von einem Gegner der Emanzipation einmal so dargestellt: „Der Jude handelt niemals als isoliertes Individuum ... Seine Unternehmungen haben immer einen doppelten Endzweck, nämlich: eigenen Gewinn und mittel- oder unmittelbaren Vorteil seines Volks. Er findet überall Unterstützung, er hat gleich tausend Hände, die zu seiner Unternehmung mitwirken ..., ob der Staat, in dem er lebt, davon Vorteil oder Schaden hat, das kümmert ihn nicht ...“11 Losgelöst von der historischen Situation läßt sich diese Aussage auf eine allgemeine These zurückführen, die man folgendermaßen formulieren könnte: Wo die Staatsbürger verschiedenen Kulturen angehören, die unterschiedliche Loyalitäten begründen, entstehen partikulare Netzwerke persönlicher, emotionaler und stammesmäßiger Beziehungen, an denen sich das Handeln der jeweils Betroffenen vorrangig orientiert. Die allgemeine Rechtsgleichheit droht dabei zu einer bloßen Fassade zu verkümmern, hinter der sich die verschiedensten Formen des Nepotismus breitmachen.

 

„Absurd“ sei es daher, meinte Schopenhauer, den in ihrer eigenen Welt verhafteten Juden „einen Anteil an der Regierung oder Verwaltung irgend eines Staates einräumen zu wollen“. In diesem Fall würden sie nämlich erst recht con amore Juden sein und bleiben12. Eine ganz ähnliche Auffassung kommt in einem 1811 erstatteten Gutachten eines preußischen Reformbeamten zum Ausdruck, wo vor den Folgen gewarnt wird, die zu erwarten seien, wenn die Judenschaft, „wie sie jetzt noch ist, bald ihre Angehörigen als Agenten in den Behörden selbst erhalten sollte“13. Man kann solche Bemerkungen heute leicht mißdeuten14. Recht verstanden aber wurde damit nur die These aufgestellt, daß auch das abstrakte Bürgerrecht ein gewisses Maß soziokultureller Homogenität voraussetzt und daher nicht unbesehen an jedermann verliehen werden sollte.

 

IV.    Inklusion und Exklusion aus jüdischer Sicht

Wir haben uns bisher nur mit Äußerungen befaßt, die dem Kreis der christlichen Mehrheit zuzuordnen sind. Das könnte die Frage nahelegen, ob sich die darin zum Ausdruck kommende Betrachtungsweise nicht einer allzu einseitigen Sicht verdankt. Interessanterweise wurde das Problem von jüdischen Intellektuellen zum Teil jedoch nicht anders gesehen. Auch hier wurde erkannt, daß ein Staat, der auf die Solidarität aller Bürger gegründet ist, sich mit der soziokulturellen Sonderexistenz einzelner Bevölkerungsgruppen nur schwer verträgt. Dabei kann man nicht einmal sagen, daß diese Einsicht hier weniger nachdrücklich formuliert worden wäre. Von dem Historiker Isaac Jost stammt etwa die für empfindliche Ohren vermutlich schroff klingende Bemerkung, der Staat könne „keine Juden als legitim anerkennen“, wenn diese bei dem Grundsatz blieben, daß sie sich „nicht mit den Landeskindern verheiraten“ könnten: „Der Staat besteht nur durch sein Volk, und sein Volk muß ein Ganzes ausmachen. Warum soll er eine Gemeinschaft erheben, deren Hauptgrundsatz ist, daß sie allein die Wahrheit besitze und daher alle Gemeinschaft mit den Landeskindern meiden müsse? Können diese Menschen echte Vaterlandsliebe haben? Was kann Ihnen Interesse für den Staat einflößen, dessen Führer sie sogar für Irrende halten?“15

 

Bei einer im Freundeskreis geführten Diskussion über die „Verbesserung der Juden“ brachte Leopold Zunz, der Begründer der Wissenschaft des Judentums, einmal einen ähnlichen Aspekt zur Sprache. Anläßlich einer Aufzählung verbreiteter „Judenübel“ kritisierte er unter anderem den „selbst gegen das Gesetz sich erhaltende[n] Wahn, Nichtjuden zu betrügen sei erlaubt“16. Das war in der damals geführten Emanzipationsdebatte ein besonders neuralgischer Punkt; denn es ging dabei um den Vorwurf, daß die Juden im Verhältnis zu ihrer nichtjüdischen Umwelt insgeheim andere Wohlverhaltensregeln befolgten als gegenüber ihren Stammesgenossen17. Auch wer den Juden an sich wohlgesonnen war, kam dadurch in innere Konflikte. Wer argwöhnt, daß der andere seine Rolle nicht spielen werde, ist naturgemäß versucht, die eigene auch nicht zu spielen. Die erwiesene oder auch nur vermutete Mißachtung durch die anderen ruft so fast zwangsläufig die eigene Mißachtung der anderen hervor. Viele Christen nahmen den erwähnten Vorwurf daher als Rechtfertigung dafür, die Juden ihrerseits übertölpeln zu dürfen, wenn sich die Gelegenheit dazu bot.

 

Ein Blick in den Schulchan aruch, der lange Zeit die maßgebliche Vorschriftensammlung für traditionsgebundene Juden gewesen war, macht schnell deutlich, gegen welche Einstellungen und Verhaltensweisen Zunz angekämpft hatte. „Man darf niemand übervorteilen“, heißt es hier nämlich, „sei es beim Kauf oder beim Verkauf.“ Aber: „Einen Nichtjuden kann man übervorteilen, denn es heißt in der Schrift 3. B[uch] M[ose] 25, 14, es soll niemand seinen Bruder übervorteilen.“18 Oder an anderer Stelle: „Sobald jemand eine Sache ... stiehlt, so hat er das Verbot: du sollst nicht stehlen, übertreten und muß zahlen, gleichviel, ob er einem Juden oder einem Nichtjuden, einem Mündigen oder Unmündigen etwas stiehlt.“ Aber: „Einen Nichtjuden kann man mittelbar bestehlen, d.h. ihn betrügen im Rechnen u.s.w., er muß solches aber nicht wissen, damit der Name Gottes nicht entweiht, geschimpft wird.“19

 

Daß die christliche und die jüdische Gesellschaft jahrhundertelang voneinander getrennt geblieben waren, war demnach kein einseitiger Prozeß. Der mit Repressionen verbundenen Ausschließung der Juden auf christlicher Seite entsprach vielmehr die religiös‑nationale Absonderung und Verbrüderung der Juden selbst. Man wurde ausgeschlossen, weil man anders war, schloß sich aber auch selbst aus, weil man anders sein und bleiben wollte20. Daß eine Ehe zwischen Juden und Christen unmöglich war, lag nicht nur an christlichen, sondern ebenso auch an jüdischen Exogamieverboten. Daß sich keine gemeinsame Geselligkeit entwickelte, hatte nicht nur damit zu tun, daß die Juden in den Städten in eigene Wohnbezirke verwiesen wurden, sondern auch damit, daß sie meist selbst darauf aus waren, unter sich zu bleiben und alle nichtgeschäftlichen Kontakte mit ihrer christlichen Umwelt zu meiden. „Man soll sich nicht wie Nichtjuden kleiden“, heißt es im Schulchan aruch, „ihre Gebräuche nicht nachahmen ..., ihre Kleider nicht anziehen, sich nicht das Haar wachsen lassen wie sie ... ‑ kurz, man soll sich in allem von ihnen unterscheiden.“21 Aus Sorge, er könne verunreinigt werden, war es einem Juden selbst verboten, mit einem „Nichtjuden zusammen am Tisch zu sitzen, selbst wenn der Jude von dem Seinigen ißt“22

 

Bei den Diskussionen, die im frühen 19. Jahrhundert in dem Berliner „Verein für Kultur und Wissenschaft der Juden“ über Fragen der Emanzipation geführt wurden, war man sich über die Probleme, die sich aus solchen Einstellungen ergaben, durchaus im klaren. Namentlich Eduard Gans, der Wortführer des Vereins und einer der Vorkämpfer der Emanzipation, brachte das Nebeneinander von Inklusion und Exklusion nachdrücklich zur Sprache. „Ausgeschlossen und ausschließend“, legte er über die Juden dar, „gingen sie ... eine eigene Geschichte parallel neben der Weltgeschichte her, gehalten durch das kunstreiche Ineinander ihres häuslichen, politischen und religiösen Lebens sowohl als durch das Auseinander aller übrigen Stände der Gesellschaft“. Immer wieder rief er seine Mitstreiter dazu auf, diesem Zustand auch von jüdischer Seite her ein Ende zu bereiten: „Sie wollen die Scheidewand einreißen helfen, die den Juden vom Christen und die jüdische Welt von der europäischen Welt getrennt hält; Sie wollen jeder schroffen Besonderheit ihre Richtung gegen das Allgemeine anweisen; Sie wollen, was Jahrtausende nebeneinander einher ging, ohne sich zu berühren, versöhnt einander zuführen.“23

 

V.      Assimilation und Emanzipation

Die selbst noch im 19. Jahrhundert verbreitete gegenseitige Verweigerungshaltung von Christen und Juden belegt, daß räumliche Nähe für sich allein noch keine Gemeinschaft erzeugt, solange die Beteiligten in verschiedenen Kulturen verharren. Die Verwurzelung in unterschiedlichen Kulturen war allem Anschein nach gerade dasjenige, was Christen und Juden am wirksamsten und dauerhaftesten voneinander trennte. „Nicht den Juden, unsern Brüdern, sondern der Judenschaft erklären wir den Krieg“, äußerte daher selbst Fries einmal24. So gesehen war es daher im Grunde nur folgerichtig, daß die rechtliche Emanzipation mit einer Assimilation und Akkulturation einherging. Sich in die vorhandene Gesellschaft einzufügen, war dabei zweifellos zunächst eine Forderung der christlichen Umwelt, die häufig als Vorbedingung einer rechtlichen Emanzipation formuliert wurde. Aber auch auf jüdischer Seite wurde erkannt, daß eine geteilte Loyalität – einerseits gegenüber dem Staat, in dem man lebte, andererseits gegenüber der jüdischen „Nation“ – auf Dauer kein wünschenswerter Zustand war. Für viele jüdische Intellektuelle war gerade dieser Widerspruch und nicht etwa, wie gern behauptet wird, bloßer Opportunismus der Grund dafür, daß sie sich von ihrer traditionellen Identität lossagten, um so zu sein, wie die Mehrheit der anderen auch war25. In neuerer Zeit hat William Schlamm den Zwiespalt einmal auf eine knappe Formel gebracht: „Die kurative Antwort auf den Antisemitismus ist konsequenter Zionismus oder konsequente Assimilation.“26 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war von Zionismus noch nicht die Rede, um so mehr davon, daß die Juden sich nicht länger sträuben sollten, in ihrer Umwelt aufzugehen. Als Eduard Gans in einer seiner Reden einmal die Zukunft des europäischen Judentums ausmalte, erklärte er dessen Untergang zwar für unwahrscheinlich, „aber“ – so seine Forderung – „in die große Bewegung des Ganzen soll es untergegangen scheinen und dennoch fortleben, wie der Strom fortlebt in dem Ozean.“27

 

In einer betont christlichen Umwelt lief das in aller Regel zwar nach wie vor auf die Taufe hinaus, die daher nach einem geflügelten Wort Heinrich Heines das „Entréebillet“ zur europäischen Kultur wurde. Für einsichtige Beobachter, die von ideologischen Voreingenommenheiten frei waren, ging es dabei aber weniger um das Bekenntnis zu irgendwelchen Glaubensartikeln, sondern um die symbolische Lossagung von soziokulturellen Bindungen, die mit dem Anspruch des modernen Staates nach ungeteilter Loyalität als unvereinbar angesehen wurden.

 

Mit dem ihm eigenen Zynismus hat Schopenhauer die Taufe eines „vernünftigen Juden“ geradezu einmal als ein Heraustreten aus der jüdischen „Genossenschaft“ bezeichnet, das auch dann zu loben sei, „wenn es ihm mit dem christlichen Glauben kein großer Ernst sein sollte“; bei manchen Christen sei das schließlich auch nicht anders. Das beste Mittel überhaupt aber sei, „daß man die Ehe zwischen Juden und Christen gestatte, ja begünstige“. Dann werde sich das ganze Problem im Laufe der Zeit von selbst lösen.28 Nicht Aufrechterhaltung der Trennung und Pflege bestehender Unterschiede war also das Ziel, sondern Beseitigung aller Schranken, die bisher die beiden Bevölkerungsgruppen voneinander getrennt gehalten hatten.

 

Daß die Integration der Juden in Staat und Gesellschaft im Verlauf des 19. Jahrhunderts formell zum Abschluß gebracht werden konnte, ist daher nicht zuletzt der kontinuierlichen Aufhebung der bis dahin bestehenden soziokulturellen Unterschiede zu verdanken. Wichtige Punkte waren hierbei die Reform des Judentums selbst in Richtung auf eine Konfessionalisierung der jüdischen Religion29, die rege Teilnahme vieler Juden an europäischer Kunst und Wissenschaft, der unter Juden nicht selten in gesteigerter Form auftretende Patriotismus30, die zunehmende Bereitschaft zur Taufe31, schließlich auch Mischehen, die freilich bis hin zum Inkrafttreten des Reichspersonenstandsgesetzes durch das geltende Eheschließungsrecht stark behindert wurden32. Getaufte Juden konnten hohe und höchste Ämter erringen, auch wenn an ihrer religiösen Bekenntnistreue vielfach Zweifel bestanden. Viele wurden Professoren, andere machten bedeutende politische Karrieren, v. Simson wurde erster Präsident des neugegründeten Reichsgerichts u.a.m.33 Daß dieser Prozeß durch den in der Folge sich ausbreitenden rassischen Antisemitismus überlagert und schließlich rückgängig gemacht wurde, ist ein anderes Kapitel, das, wie heute vielfach verkannt wird, mit unserem Thema unmittelbar nichts zu tun hat.

 

VI.    Soziokulturelle Voraussetzungen des Rechts

Ausgangspunkt unserer Überlegungen war die Absicht gewesen, die christlich-jüdische Symbiose einmal daraufhin zu befragen, welche Erkenntnisse sich daraus für die Probleme einer multikulturellen Gesellschaft gewinnen lassen. Die Schlußfolgerung, die unser kurzer Streifzug nahelegen könnte, läßt sich kaum besser wiedergeben als mit den Worten William Schlamms, der – selbst jüdischer Herkunft – aus seinen eigenen Erfahrungen einmal folgenden Schluß gezogen hat: „... was ist das Judenproblem in seiner tiefsten Schicht? Es ist die Reaktion des Menschen auf den ,anderen’. Immer wird der Mensch vom Fremden - von dem, was ,anders’ ist als er - erschreckt, bedroht, provoziert sein. Und immer wird er nach Selbstbestätigung suchen, indem er Menschen ,bejaht’, die ungefähr so sind wie er; und Menschen ,verneint’, die anders sind. Die Akzente und Temperaturen solcher ,Bejahung’ und ,Verneinung’ mögen sich verschieben, vielleicht auch die Reizschwellen ihrer Intensität: Was gestern die Haarfarbe war, mag morgen die Hautfarbe sein und übermorgen die Sprachfärbung. Aber unveränderlich bleibt die Not des Menschen, sich selbst durch die Verneinung des Anders‑Sein[s] zu bejahen. Die Minderheit – jede Minderheit – bleibt verdächtig, weil der Mensch an sein Ich gebunden ist. Und der Jude ist die Minderheit schlechthin.“34

 

Folgt man dieser Sicht, so kann die Geschichte des christlich‑jüdischen „Multikulturalismus“ geradezu als ein Lehrstück für die immanenten Grenzen einer pluralistischen Gesellschaft überhaupt gelesen werden. Kennzeichen einer „offenen“ Gesellschaft ist bekanntlich ein rein formales Recht, das allein auf die abstrakte Personqualität der Bürger abstellt. Dem abstrakten Denken gilt der Mensch nach einem Wort Hegels „weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener u.s.f. ist“35. Im Unterschied zu vormodernen Rechten ermöglicht das formale Recht westlicher Prägung daher ein sonst unbekanntes Maß an Freiheit. Der politische Gegner gilt hier nicht per se als Volksschädling. Ebensowenig gibt es hier eine Glaubensdoktrin, auf die alle von Rechts wegen verpflichtet wären. Formalität des Rechts bedeutet Vielfalt der Überzeugungen und der Verhaltensformen. In letzter Instanz beruht freilich auch der pluralistische Staat nicht auf seinem Recht, sondern auf dem, was man nicht anordnen und worüber man nicht abstimmen kann, nämlich auf der kulturell vermittelten Nähe zu „Seinesgleichen“ und der Distanz zu dem Rest der Welt. Die uneingeschränkte und unterschiedslose Anerkennung des andern setzt ein Vertrauen voraus, das sich ohne ein gewisses Maß an soziokultureller Homogenität kaum bilden oder erhalten kann. Nicht die äußere Nähe, nur die innere Gemeinsamkeit der kulturellen Lebenswelt, wie sie in Sitten, Werten und Überzeugungen zum Ausdruck kommt, vermag ein Band zu flechten, das den Einzelnen bei aller Freiheit, die das Recht ihm läßt, unauffällig in den Dienst des Ganzen bindet. Wo diese kulturelle Bindekraft fehlt, wo das abstrakte Recht buchstäblich jedermann, im Extremfall also auch Freund und Feind unterschiedslos gleichbehandelt, verliert es an Legitimität und ist in Gefahr, die freiwillige Gefolgschaft einzubüßen, von der letztlich die Wirksamkeit allen Rechts abhängt36.

 

Daß eine Gesellschaft sich als eine „offene“ versteht, ändert wenig daran, daß ihre Bürger, je für sich genommen, prinzipiell in eigenen, relativ geschlossenen Welten des Denkens, Fühlens und Handelns verbleiben. Unbegrenzt offen sind allenfalls die formalen Regeln, mit deren Hilfe sich eine Gesellschaft unter wechselnden Bedingungen neu definiert. Der einzelne Bürger dagegen, der sich bei diesen Veränderungen mehr als Objekt denn als Subjekt empfindet, ist zur Bewältigung seines Lebens auf überschaubare und stabile Ordnungen angewiesen. Die gedanklichen Orientierungsmuster, an die er sich zu diesem Zweck hält, können nicht alle Widersprüche der Realität abbilden und schon gar nicht können sie beliebig ausgetauscht werden. Zwischen dem „Außen“ und dem „Innen“, zwischen dem, was objektiv geschieht und was in den Köpfen und Herzen der Menschen vorgeht, tut sich daher leicht eine Kluft auf. Die offene Gesellschaft bringt nämlich nicht nur neue Freiheiten; sie ist auch mit neuen Zumutungen verbunden. Wer nach seinem subjektiven Eindruck über Gebühr in seinen Erwartungen enttäuscht und verunsichert wird, verteidigt seine Sicht der Welt mit derselben Vehemenz wie alles andere, das er als sein Eigentum ansieht. Die Bandbreite soziokultureller Differenzen, die ein Gemeinwesen ohne Nachteil verkraften kann, ist daher womöglich nicht ganz so groß, wie es beim Entwurf neuer Gesellschaftsmodelle am Reißbrett erscheinen mag. Das mag man bedauern. Wie die Erfahrung lehrt, sind die Menschen jedoch oft genug bereits da überfordert, wo unterschiedliche Lebensentwürfe mit gleichem Geltungsanspruch aufeinandertreffen.

 

VII.   Moderne Gesellschaft mit vormodernen Verhaltensmustern

Günther Anders hat den „modernen“ Menschen einmal als antiquiert beschrieben37. Nimmt man dies wörtlich, so heißt es, daß auch die moderne Gesellschaft sich aus Individuen zusammensetzt, die ihrer inneren Struktur nach vormodern sind und die archaischen Verhaltensmuster der Stammesgesellschaften nach wie vor in ihrem Verhaltensprogramm haben. In Gestalt des Gesangbuch- und Parteibuchprotektionismus ist das moderne Tribalverhalten bereits sprichwörtlich geworden. Aber auch sonst gehört nicht viel Lebenserfahrung dazu, um zu erkennen, wie sich auf allen Betätigungsfeldern ständig aufs neue konkurrierende Gruppen und Vereinigungen bilden, deren Angehörige sich nach innen befördern und nach außen befehden. Die sich daraus ergebenden Konflikte werden in der modernen Gesellschaft dadurch in Grenzen gehalten, daß solche Gruppierungen sich vielfach überlappen, so daß ihre Angehörigen sich häufig in mehreren Koalitionen mit unterschiedlichen Mitgliedern finden. Wer in einer Beziehung Gegner ist, kann daher in einer anderen ohne weiteres Partner sein. Hinzu kommt, daß die Zugehörigkeit zu solchen Verbänden normalerweise der freien Disposition unterliegt. Als Mitglied und erst recht als Wähler einer politischen Partei kann man sich jederzeit der Gegenpartei anschließen. Die Fronten sind daher ständig in Bewegung.

 

So verhält es sich mit unterschiedlichen Kulturen aber gerade nicht. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur erstreckt sich grundsätzlich auf alle Lebensäußerungen, und zwar unabhängig davon, ob der Betreffende dies wünscht oder nicht. Eine Kultur ist keine Angebotspalette von Konsumgütern, deren man sich je nach Gefallen bedienen kann oder nicht. Sie ist auch kein formaler Handlungsrahmen nach dem Muster einer modernen Rechtsordnung: Sie ist vielmehr das, was einen solchen Rahmen inhaltlich füllt. Die Vorstellung, daß eine Kultur unbegrenzt „offen“ sein könne, übersieht, daß Kultur gerade das ist, was für den Einzelnen, der darin lebt und verwurzelt ist, am allerwenigsten zur Disposition steht. Eine Kultur, die sich gegenüber einer anderen uneingeschränkt öffnen wollte, hätte fast im gleichen Augenblick aufgehört zu existieren. Wie die Menschen jedoch reagieren, wenn sie mit einer Kultur konfrontiert werden, an der sie weder teilnehmen können noch wollen, weil dies – jedenfalls nach ihrer subjektiven Einschätzung – das Ende ihrer eigenen bedeuten würde, folgt einer eigenen Logik. Seit Huntington den Blick auf diese Fragen gelenkt hat38, ist ein neues Gespür dafür entstanden, daß der „Kampf der Kulturen“ wesentlich durch die Unterscheidung von Ingroup und Outgroup, von Dazugehörigen und Nichtdazugehörigen bestimmt wird. Im Hinblick darauf wird man sich daher darauf einstellen müssen, daß sich auch eine multikulturelle Gesellschaft kaum je durch ein harmonisches Nebeneinander auszeichnen wird. „In ihr ist vielmehr“, wie Cohn‑Bendit einmal einräumte, „– erst recht dann, wenn sich wirklich fremde Kulturkreise begegnen – der Konflikt auf Dauer gestellt. Die multikulturelle Gesellschaft ist hart, schnell, grausam und wenig solidarisch, sie ist von beträchtlichen sozialen Ungleichgewichten geprägt und ... hat die Tendenz, in eine Vielzahl von Gruppen und Gemeinschaften auseinanderzustreben und ihren Zusammenhalt sowie die Verbindlichkeit ihrer Werte einzubüßen.“39 Unter einem anderen Aspekt betrachtet könnte man sagen: Der kulturellen Beliebigkeit sind auf lange Sicht dadurch Grenzen gesetzt, daß jeder nur in einer Kultur zu Hause sein kann: nämlich in seiner eigenen, auf welche Weise auch immer diese zustande gekommen sein mag.

 

Rückblickend spricht gerade auch der Verlauf der jüdischen Emanzipation dafür, daß nur eine weitgehende Assimilation und Akkulturation geeignet ist, die aus kulturellen Unterschieden resultierenden Spannungen, das gegenseitige Mißtrauen, die menschlichen Phobien und Ängste, die Ausgrenzungen und Schuldzuweisungen zu reduzieren. Für die Mehrheit wird die Forderung nach einer Assimilation der Minderheit wohl immer als unverzichtbar erscheinen. Für die Minderheit dagegen wird sich dies nach genau derselben Logik wohl immer als Zumutung darstellen; denn seine kulturelle Verwurzelung kann man nicht einfach auf Kommando austauschen. Die für ein harmonisches Miteinander erforderlichen Anpassungsprozesse werden daher ohne einen gewissen Anpassungsdruck kaum stattfinden. Anpassen wird sich im großen und ganzen nämlich nur der, dem aus einer Anpassung größere Vorteile erwachsen als aus einer Nichtanpassung. Im gleichen Maße, wie eine Minderheit zahlenmäßig an Gewicht gewinnt, wird dieser Anpassungsdruck freilich nachlassen und dürfte demgemäß auch die Bereitschaft sinken, sich in den soziokulturellen Verband, der von der Mehrheit gebildet wird, einzufügen. Aber damit tut sich ein anderes Problem auf: Bis zu welchem Punkt können Integrationskonzepte überhaupt erfolgreich sein? Wann erwächst aus bloßer Quantität eine neue Qualität, die eigenen Gesetzen gehorcht? Und wie könnten diese Gesetze aussehen? Unglücklicherweise sind das Fragen, die in der öffentlichen Diskussion bisher ebenfalls mit einem Tabu belegt sind.