Worte an einen geprüften Rechtskandidaten
Wenn ein Lebensabschnitt endet, wendet sich der Blick aber auch zurück: Was war das eigentlich für eine Zeit gewesen? Was läßt man hinter sich? Was nimmt man mit? Eine solche Bilanz löst bisweilen Enttäuschung aus. Wie interessant hätte das Rechtsstudium sein können, kann man gelegentlich hören, wenn ... Ja, wenn der Studienplan anders gewesen wäre, der Unterricht anders, die Prüfungen anders, die Lehrer anders. Wenn alles anders gewesen wäre, dann hätte man sich leicht begeistern können. Aber so? Nicht alle legen soviel Selbstkritik an den Tag wie Tucholsky, der einmal einräumte, daß es nicht an den Umständen, sondern allein an ihm selbst lag, wenn er für das, was seine Lehrer ihm sagen wollten, kein Ohr hatte.
Freilich ist der Vorwurf, daß in der Rechtswissenschaft nur selten vom Recht die Rede sei, nicht ganz von der Hand zu weisen. Die Frage nach Formen, Fristen und Zuständigkeiten, nach Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen ist das tägliche Brot des praktischen Juristen, und eben damit beschäftigt sich in weitem Umfang auch die Rechtswissenschaft. Die Schale des Rechts - so lautet ein hartes Urteil - ist der Kern der Jurisprudenz. Das fordert auch im Studium seinen Preis. Ein Kritiker des gängigen Betriebs hat die Ausbildung des Juristen geradezu einmal als eine besondere Art bethlehemitischen Kindermordes bezeichnet: höchste Rationalität en detail, verbunden mit der größten Irrationalität en gros. Aber vielleicht sollte man die Verantwortung für diesen Zustand nicht ganz so leicht von sich schieben. Denn immerhin ist die Wirklichkeit des Rechts nichts anderes, als was die Menschen aus der Rechtsidee gemacht haben. Daran ist letztlich jeder beteiligt, auch wenn ihm das nicht bewußt ist.
Manche haben den Reiz des Rechts darin erblicken wollen, daß es den, der sich damit befaßt, mit allen menschlichen Verhältnissen in Berührung bringe. Das hat einiges für sich; allerdings darf man von dieser Offenheit nicht allzu viel erwarten. Denn das Recht bildet die Buntheit des Lebens nicht ab, sondern strukturiert sie nur in holzschnittartiger Weise. Der Jurist beschäftigt sich von Haus aus mit allem - aber nur von außen. In seiner Funktion als Paragraphenreiter bleibt er dem wirklichen Leben ein Fremder. Die Welt durch ein Schema zu sehen, das keine Zwischentöne und Übergänge, sondern nur den binären Code von Recht und Unrecht kennt, setzt Gewöhnung und oft genug Überwindung voraus. Gleichwohl führt kein Weg daran vorbei: Wer im Recht etwas bewirken will, muß es gelernt haben, sich in diesen Fesseln zu bewegen. Erst aus der Perfektion dieser Kunst wächst dem Juristen wieder eine Art Freiheit zu.
Was treibt einen jungen Menschen dazu, sich einer solchen Wissenschaft zu widmen? Zwei Dinge sind es, glaubte vor 800 Jahren ein gelehrter Hofmann zu wissen: Jagd nach Ämtern und eitle Ruhmsucht. Heute ist es bei manchen vielleicht mehr die Ratlosigkeit, nichts besseres zu wissen, oder die Unerfahrenheit, daß man zu Beginn des Studiums nicht ahnt, worauf man sich einläßt, oder irgendein anderer Zufall. Niemand braucht sich daraus einen Vorwurf zu machen. Denn die Frage, wie man sich zum Recht zu verhalten gedenkt, kann sinnvoll erst beantwortet werden, wenn man es kennengelernt hat. Erst jetzt, nachdem man bis zur Schmerzgrenze damit konfrontiert worden ist, kann beurteilt werden, worin die Herausforderung des Rechts besteht und was es heißt, sie anzunehmen.
Von Friedrich Rückert ist ein schöner Vers überliefert:
Vor jedem steht ein Bild des, was er werden soll,
solang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll.
Für den Juristen gilt das nicht minder als für jeden anderen auch. In der Leere, die auf das Examen meist folgt, taucht vielleicht eine Ahnung auf, was damit gemeint sein könnte.