Rückblicke auf Studium und Examen

Aus: Nachrichten und Berichte der Universität Passau Nr. 80/1995, S. 11 – 14 (dort ohne Fußnoten)

Das bestandene Examen zu feiern, ist ein schöner Brauch. Aber auch ein naheliegender; immerhin erscheint vielen das Examen als das wichtigste Ereignis im Verlauf ihres Studiums überhaupt. Das hat weniger damit zu tun, daß es ein Vergnügen wäre, examiniert zu werden; der eigentliche Grund dürfte vielmehr der sein, daß dem Examen die Eigenschaft zukommt, das Studium zu beenden. Bei dem Ausbruch der Freude, der dadurch hervorgerufen wird, übersieht man leicht, daß damit ein Lebensabschnitt zu Ende gegangen ist, auf den man schon nach wenigen Jahren wie auf ein verlorenes Paradies zurückblickt. Bevor Sie jetzt gleich im Anschluß an diese Feier in die sogenannte Freiheit entlassen werden, möchte ich Sie daher anregen, noch einmal kurz innezuhalten und darüber nachzudenken, was das eigentlich war, das Sie die letzten Jahre gefangen gehalten hat: das juristische Studium nämlich.

Allerdings scheint es fast, daß man über das Studium nicht sprechen kann, ohne zugleich über das Examen zu reden. Alle wichtigen Ereignisse haben es nämlich an sich, daß sie die Zeit in zwei Abschnitte teilen: in die Zeit davor und die Zeit danach. Auch das Studium sieht vor dem Examen anders aus als danach. Vor dem Examen ist alles Studieren examensbezogen. Das Examen wird für den Studenten im Laufe der Zeit zum Maß aller Dinge. So wie ein Torero von der ganzen Welt nichts wahrnimmt als nur den Stier, so ist der Examenskandidat am Ende ganz auf das Examen fixiert. Je näher es auf ihn zukommt, desto mehr scheint es ihm, als sei dies die letzte, höchste und zugleich schwierigste Aufgabe, die er je zu bewältigen hat. Nach bestandenem Examen kehrt dann aber der gesunde Menschenverstand meist schnell zurück. Das äußert sich z.B. darin, daß man jetzt auch einmal die Frage stellt, wozu das Examen selbst gut war. Das ist, wie man einräumen muß, gar nicht leicht zu beantworten.

Aber ich will Sie hier nicht mit philosophischen Fragen verdrießen. Ich möchte Ihnen vielmehr einmal vor Augen führen, wie die Generationen vor uns ihr Studium – und ihr Examen – gesehen haben. Das erste, was man dabei lernen kann, ist, daß das Rechtsstudium seit jeher sehr unterschiedliche Gefühle ausgelöst hat. So läßt bereits Cicero in einem seiner Dialoge den gelehrten Crassus sagen, daß das Aufnehmen und Erkennen des Rechts nicht wenig erleichtert werde dadurch, „daß es ein außerordentliches Vergnügen und ein Genuß ist, sich damit zu beschäftigen“. Aber gleich darauf läßt er den erfolgreichen Anwalt Antonius erwidern: „Ich sage dir: dies Vergnügen läßt dir jeder und weiß den Verlust zu verschmerzen.“ [1]

Es liegt in der Natur der Dinge, daß das juristische Studium vor allem vor dem Examen häufig als trocken, langweilig und von bedrückender Enge beschrieben worden ist. Jahre danach waren viele dann aber doch versöhnlich gestimmt, nicht selten übrigens dieselben, die sich zunächst bitter beklagt hatten.

Als sich Scheffel zur Examensvorbereitung nach Berlin begab, nannte er das Rechtsstudium „ein ledernes Treiben“, das „eigentlich eine sehr niedere Stufe in der geistigen Tätigkeit in Anspruch“ nehme, denn „die ganze Kunst besteh[e] in der Kenntnis der äußeren, vorgeschriebenen Formen und im Unterordnen des einzelnen Falles unter die allgemeinen Rechtsregeln; ... bei dem Bewußtsein, daß das meine Zukunft sein wird, wird es mir oft ein wenig schwül zumute.“ [2] Bei Kafka hielt diese Abneigung bis weit über das Examen hinaus an. In seinem berühmten Brief an den Vater schrieb er: „Ich studierte also Jus. Das bedeutete, daß ich mich in den paar Monaten vor den Prüfungen unter reichlicher Mitnahme der Nerven geistig förmlich von Holzmehl nährte, das mir überdies schon von Tausenden Mäulern vorgekaut war.“ [3] Trotzdem hat sich kein Schriftsteller intensiver mit dem Recht auseinandergesetzt als gerade Kafka. Vielleicht ist das auf eine Haßliebe zurückzuführen; vielleicht hängt es aber auch damit zusammen, daß das Beängstigende und Bedrohliche Kafkas eigentliches Thema war.

Wenn Pflicht und Neigung auseinanderklaffen, sind auch an der juristischen Fakultät nur wenige bereit, den Grund dafür bei sich selbst zu suchen. Die Methode, mit dem eigenen Unbehagen und den daraus resultierenden Mißerfolgen fertig zu werden, besteht vielmehr seit altersher darin, die Schuld auf Lehrer und Prüfer abzuwälzen. Als trocken, ledern, verknöchert und mumiengelb werden die Rechtslehrer meist geschildert. Eine der wenigen Ausnahmen war hier der Schriftsteller Walter Serner, der, nachdem er 1912 durchgefallen war, an einen seiner Prüfer schrieb: „Ich war von je eine sehr trübe Prüfungsfigur; sogar dann, wenn ich etwas wußte. Da ich zwei Drittel der letzten zehn Jahre nur mit Lesen und Schreiben zubrachte, ist meine angeborene Schüchternheit und Unfähigkeit im Umgang mit Menschen nicht verloren gegangen. Diese unangenehmen Eigenschaften... steigern sich selbstredend bei einer Prüfung ins Maßlose, und was dann zustandekommt, ist Ihnen wohl noch erinnerlich. Und es ist mir geradezu peinlich, Ihnen vielleicht wieder die Unannehmlichkeiten zu bereiten wie im Vorjahr.“ [4]

Im Gegensatz dazu war Heinrich Heine eher ein Student von der gewöhnlichen Sorte. Als er sich in Göttingen mit den Pandekten abmühte, nannte er den berühmten Göttinger Rechtslehrer Gustav Hugo den „ledernen, schweinsledernen, ja doppelt schweinsledernen Hugo“, den „Freund meiner bittersten Feinde“. Erst nach bestandenem Examen, bei dem ihm Hugo auch wegen seiner Gedichte ein Kompliment gemacht haben soll, erfolgte ein Meinungsumschwung. „Hugo ist einer der größten Männer unseres Jahrhunderts“, hieß es jetzt. [5] Wenn die Prüfung unmittelbar vor der Tür steht, wird das Examen offenbar nur selten als Befreiungsschlag begrüßt. Als der Handelsrechtler Hachenburg die Ladung zum ersten Staatsexamen erhielt, war er, wie er später eingestand, „sehr niedergeschlagen und hatte das Gefühl, alles, was ich gelernt hatte, vergessen zu haben. Später merkte ich, daß es vielen so geht. Das ist der höchste Grad der Anspannung und Erregung. Auch die Folge der angestrengten Arbeit bis zur letzten Minute.“ [6] Allerdings gibt es auch keine schlechtere Gelegenheit, sich von einer vorteilhaften Seite zu zeigen, als gerade ein öffentliches Examen. Wie Heinrich v. Kleist einmal schrieb, ist es an sich „schon widerwärtig und das Zartgefühl verletzend..., wenn solch ein gelehrter Roßkamm uns nach den Kenntnissen sieht“; und außerdem ist es auch noch „so schwer, auf ein menschliches Gemüt zu spielen und ihm seinen eigentümlichen Laut abzulocken, es verstimmt sich so leicht unter ungeschickten Händen, daß selbst der geübteste Menschenkenner... Mißgriffe tun könnte.“ [7] Manchmal hilft daher dem Kandidaten nur der Mut der Verzweiflung. So erging es dem späteren Strafrechtslehrer Radbruch in seinem 1. Staatsexamen. Er hatte das Pech, daß er die ersten vier Fragen nicht beantworten konnte. „Aber nunmehr verzweifelt“, so schilderte er diese Situation später, „verfiel ich einer vollkommenen Gleichgültigkeit, die mir ermöglichte, allen weiteren Fragen in Ruhe gerecht zu werden, und so erwarb ich mir das Prädikat: gut.“ [8]

Nicht alle Kandidaten befördern ihre Prüfer nach bestandenem Examen zu den ersten Männern ihres Jahrhunderts. Aber einige gewinnen im nachhinein doch ein gewisses Verständnis für die Situation, in der sich ihre Lehrer befinden. „Mit dem Studium des Rechts sollten insbesondere künftige Staatsdiener auf ihre hohen Dienste vorbereitet werden“, schreibt Heinrich Kipp in seinen „Rückblicken“. „Diese Doppelaufgabe hat die Lehrenden an den Universitäten immer in große Schwierigkeiten gebracht. Sie standen vor dem Dilemma, einesteils forschend die Wissenschaft weiterzubringen, anderenteils die Studierenden auf praktische Berufe vorzubereiten.“ [9] Was eben noch den Lehrern zum Vorwurf gemacht wurde, wird von einsichtigeren Kandidaten nach dem Examen daher rücksichtsvoll auf das Gesetz abgewälzt. „Die fünf Vorlesungen, die dem Bürgerlichen Gesetzbuch gewidmet waren“, heißt es bei Friedrich Georg Jünger, „ließen mich oft seufzen. Schon die Sprache, der Stil dieses Gesetzbuchs, das jedem ein Buch mit sieben Siegeln bleibt, der nicht Jahre auf seine Entzifferung verwendet, ist schwierig und leblos... Kein Laie wird auch nur in die Vorhöfe dieses Gebäudes eindringen. In diesem Labyrinth aber, das aus 2385 Paragraphen zusammengesetzt ist, muß der junge Jurist seine täglichen Künste zeigen, ohne von einer schönen Jungfrau mit einem Faden ausgerüstet zu sein. Die Schwierigkeiten wurden mir bald deutlich, um so deutlicher als der Gedanke, hier einen ersten Preis zu gewinnen, mich nicht verlockte.“ [10] Den Besten aber ist es vorbehalten, nach Abschluß ihres Studiums in den zurückliegenden Anstrengungen nachträglich einen tieferen Sinn zu erkennen. So schrieb Radbruch: „Keinem jungen Juristen bleibt der innere Kampf mit seiner Wissenschaft erspart, und es sind nicht die schlechtesten unter ihnen, die durch eine Periode geradezu des Abscheus vor ihrem Beruf hindurch müssen.“ [11] Für sich selbst aber bekannte er: „... gerade jener jugendliche Ringkampf mit der Jurisprudenz hat sich für meine spätere juristische Produktion fruchtbar erwiesen: nur weil ich an mir selbst alle Schwierigkeiten und Widerstände erlebt hatte, welche die Jurisprudenz jungen Menschen bereitet, konnte ich ein Buch schreiben, das dann so zahlreichen jungen Juristen als erste Einführung in die Rechtswissenschaft gedient hat. Nur durch Erfahrungen an der eigenen Seele konnte ich die Antinomien und Paradoxien des Rechts so herausarbeiten, wie es in meiner ,Rechtsphilosophie’ geschehen ist.“ [12]

Im Gegensatz dazu zeigen die meisten nach ihrem Examen freilich die Neigung, im nachhinein alle Anstrengungen herunterzuspielen. Konnten sie vor dem Examen nicht laut genug klagen, daß sie vor lauter Arbeit zu sonst nichts mehr kämen, so versuchen sie sich nunmehr darin zu überbieten, daß jeder der Faulste gewesen sein will. Grillparzer will jeweils „während des ganzen Halbjahres... von dem laufenden Studium gar keine Notiz“ genommen haben. Lediglich sechs oder acht Wochen vor der Prüfung will er sich auf den Stoff geworfen haben, was vollauf genügte, „daß die guten Zeugnisse nie ausblieben“. [13] Max Brod, der Freund Kafkas, kokettiert ungeniert damit, daß ihm die Rechtswissenschaft „erstaunlich fremd geblieben“ sei, „fremder als jede andere Art von Wissenschaft“; trotzdem will er ganz nebenbei „doctor utriusque juris geworden [sein], Doktor der beiden Rechte, wie es im alten Österreich hieß....“ [14] Noch lockerer gibt sich Serner. Hatte er vor seiner Wiederholungsprüfung einen wahrhaft zerknirschten Brief geschrieben, so will er später, wenn man seinen Lebenserinnerungen glauben darf, außer Ovid rein gar nichts gelesen haben. In der rechtshistorischen Staatsprüfung habe er daher das Gespräch irgendwie auf diesen Autor gelenkt. Und, so fährt er fort, „da meine Examinatoren Menschenkenner waren und echte Humanisten, wurde ich doctor utriusque juris“.

Nach bestandenem Examen kommen auch immer wieder seltsame Streiche zutage, die man vorher wohlweislich verschwiegen hatte. Daß sich der expressionistische Lyriker Georg Heym bei der Hausarbeit hatte helfen lassen und daß ihm selbst bei den Klausuren das geradezu unglaubliche Bubenstück gelungen war, fremde Arbeiten abzugeben, konnte er nicht mehr selbst erzählen, weil er – jedenfalls für die Dichtung – allzu früh starb. [15] Hans Liermann aber berichtet in seinen Lebenserinnerungen ganz unbefangen von einem Betrugsversuch aus der Anfängerübung im Bürgerlichen Recht bei Otto Lenel: „In dieser Übung schrieb ich meine erste Hausaufgabe ungenügend. Ich kann allerdings hinzufügen, daß ich sie gar nicht selbst verfaßt hatte, sondern mein Onkel, der Oberamtsrichter a.D. war. Es drehte sich um den Kauf eines Fahrrades durch einen Minderjährigen ohne Genehmigung des gesetzlichen Vertreters. Wie es in einem solchen Übungsfall nicht anders sein kann, fuhr der Minderjährige das Fahrrad kaputt. Da ich durch Verbindungsangelegenheiten stark in Anspruch genommen war und wenig Zeit hatte, ging ich meinen juristischen Onkel um Hilfe an. Er riet mir, den Fall mit dem sog. Taschengeldparagraphen (§ 110 BGB) zu lösen. Der Minderjährige könne sich das Geld für das Fahrrad zusammengespart haben. Dann war der Vertrag gültig, und es entfielen alle Schwierigkeiten. Sicherlich war das eine praktische Lösung eines alten Praktikers. Aber gerade das wollte Lenel natürlich nicht. Er wollte auf die schwebende Unwirksamkeit des Vertrages (§ 108 BGB) hinaus. Dann gab es in dem Fall allerlei juristische Nüsse zu knacken. Ich hatte mich also elegant um alle Schwierigkeiten herumgedrückt und mußte dafür nicht zu Unrecht mit einem Ungenügend büßen.“ [16] Das hinderte allerdings nicht, daß Liermann später selbst Juraprofessor wurde.

Wenn Professoren über das Studium zu schwadronieren anfangen, wird es gelegentlich geradezu abenteuerlich. „Es ist doch merkwürdig“, soll der Berliner Rechtslehrer v. Gneist einmal gesagt haben, „diejenigen meiner Hörer, die ich täglich in meinen Kollegien sehe und die fleißig nachschreiben, treffe ich später wieder als ältere Amts- und Landgerichtsräte; die dagegen, die ich selten sehe, die begegnen mir meist später als Direktoren und Gerichtspräsidenten; die aber, die ich gar nie sehe, das sind die künftigen Oberpräsidenten und Minister.“ [17] Daß er damit nicht ganz falsch lag, läßt sich durch eine berühmt gewordene Rede des damaligen preußischen Justizministers Friedberg belegen. Als die preußischen Rechtslehrer nämlich eine straffere Organisation der Juristenausbildung forderten, erwiderte Friedberg im Preußischen Landtag folgendes: „Vor einer Reihe von Jahren, als ich noch jünger war und auch noch glaubte, die Welt verbessern zu können, klagte ich dem berühmten Rechtslehrer Stahl ... über die Faulheit der Studierenden, daß sie nicht lernten und schlechte Examina machten. Darauf antwortete mir Herr Stahl: ,Ich weiß nicht, ob Sie fleißiger gewesen sind, ich kann Ihnen sagen, ich war noch viel fauler als die heutigen Studenten – und in summa ist das, glaube ich, das einzig Richtige.’ Die heutigen Studenten“, fuhr der Minister fort, „sind weder fleißiger noch fauler als die früheren. Die Menschheit als solche ändert sich nicht, sondern die Studenten werden damals ... ebenso geschwänzt haben, namentlich bei Professoren, die sie nicht anzogen .... Die Studenten werden nicht besser, nicht schlechter, Sie mögen Regulative machen, wie Sie wollen.“ [18] Das waren noch Zeiten, kann man da nur sagen.

Freilich waren diese Zeiten schon damals im Schwinden begriffen. Wie Heinrich Leo im Jahr 1880 klagte, war das „alte akademische Leben“ damals bereits „völlig verschwunden“, und zwar „nicht bloß bei den Studenten, sondern allmählich auch bei den Professoren, die mehr und mehr auch von bürokratischem Sinne angesteckt worden sind“. Professoren vom alten Schlag, die dann, wenn sie gerade keine Lust hatten, sich mit dem Anschlag begnügten: hodie non legitur, seien fast nicht mehr zu finden. „Der Herr Staat ist auch da hinten und vorn“, beschwerte sich Leo, „und die Zahmheit des akademischen Lebens würde einem Professor von 1801, wenn er gleich einem Siebenschläfer jetzt plötzlich hineinversetzt würde, sehr absonderlich vorkommen. Unsere Universitäten nähern sich von Jahr zu Jahr mehr dem Charakter polytechnischer Schulen.“ Namentlich das Überhandnehmen der Examina bis hin zum „Examensunwesen“ wurde von Leo bitter beklagt. [19]

Man kann aus diesen Bemerkungen beiläufig erfahren, daß manche Prüfer von den Prüfungen ganz anders denken als die Studenten während ihres Studiums sich dies vorstellen. Wie Robert von Mohl über die Institution der Prüfungen einmal bemerkte, „verursacht dieselbe unseren Regierungen ein dem Umfange nach gar nicht unbedeutendes Geschäft, unseren Familien die lebendigste Besorgnis, unseren Studien die eigentümliche Färbung“. [20] Im kurhessischen Justizministerium hielt man das Staatsexamen um die Mitte des vorigen Jahrhunderts geradezu für einen „Totmacher“ und wünschte daher, „dasselbe ganz abzuschaffen“. [21] Ein erfahrener Prüfer weiß indessen wohl, daß man nicht alle Kandidaten über einen Kamm scheren darf. „Es gibt Menschen“, schrieb Hachenburg, der ein solcher Prüfer war, „die durch rasches Erfassen und Bereithalten des Lernstoffes auffallen. Sie halten oft später nicht, was sie versprechen. Es gibt aber auch langsam, aber stetig arbeitende Köpfe. Man muß ihnen Zeit lassen. Dann zeichnen sich ihre Ausführungen durch Gründlichkeit und sichere Ruhe aus. Es gibt Kandidaten, die eine Fülle von Einzelheiten in sich aufspeichern können und auf Fragen hiernach mit unglaublicher Schnelligkeit antworten. Und wieder andere, die mehr in die Tiefe gehen und denen das Besondere nur das Mittel ist, zum Allgemeinen zu kommen.“ [22]

Hachenburg verdanken wir übrigens auch einen Einblick in die Ermessensüberlegungen des Prüfers, wie er in dieser Offenheit nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kaum noch zu erwarten ist. Über seinen Mitprüfer, den Senatspräsidenten Marschall von Bieberstein, berichtet Hachenburg nämlich folgendes: „Seine Kritik erfolgte stets in milder Weise. Doch wünschte er allerdings, daß die Ansicht des Oberlandesgerichts Karlsruhe, aus dessen Beständen der Fall entnommen zu werden pflegte, getroffen war. Mitunter war aber auch die gegenteilige Ansicht möglich. Manchmal sogar richtiger. Trotzdem wurde in solchen Fällen der Vortrag etwas schlechter zensiert. Versuche, hier einzuwirken, waren schwer durchführbar. Die Folge war, daß ich in solchen Fällen zur Ausgleichung dem Kandidaten einen Punkt mehr gab. Dann war ihm geholfen. Wir ersparten eine unzweckmäßige Diskussion.“ [23]

Im Gegensatz zu manchen Vorurteilen, die in Studentenkreisen kursieren, wußten die Prüfer auch immer schon, daß das Studium nicht so sehr auf das Examen als vielmehr auf den verantwortlichen Umgang mit dem Recht vorbereiten soll. Das Examen ist nur das Gütesiegel, das jeder vorweisen muß, dem die Rechte seiner Mitbürger anvertraut werden sollen. Denn eben dies: die Rechte der Bürger zu schützen und zu wahren und dabei zugleich dem Nutzen aller zu dienen, ist die eigentliche Aufgabe, die dem Juristen gesetzt ist. „Keine Rechtsordnung kann bestehen“, hat Radbruch einmal gesagt, „wenn im Volke nicht wenigstens eine Kerntruppe zur Verfügung steht, die das Recht kennt und um seiner selbst willen als verpflichtend anerkennt: der Juristenstand.“ [24] Das ist der Ernst des Lebens, der hinter dem Spiel des Studiums steht, und das Examen hat im Grunde nur den Sinn, diesen Ernst ständig bewußt zu halten. Wenn Thibaut vor mehr als 170 Jahren einmal schrieb, nicht auf „mechanische Studienplane“ komme es an, sondern auf „ein strenges Examen derer, welche sich zum Staatsdienst habilitieren wollen“ [25], so dachte er dabei ebenfalls an nichts anderes als an die Heranbildung und Erhaltung eines qualifizierten Juristenstandes, ohne den ein Rechtsstaat nun einmal nicht funktionieren kann.

Bei aller Erleichterung über das Ende des Examensdrills sollte kein angehender Jurist dieses Ziel jemals aus den Augen verlieren. Es immer wieder ins Bewußtsein zu rufen, ist die eigentliche Aufgabe des Hochschullehrers. Aber kein Lehrer kann Ihnen Ihren eigenen Anteil an dieser Aufgabe je abnehmen. Gerade als Lehrer macht man vielmehr die schmerzliche Erfahrung, daß man für die Besten häufig zuwenig bietet, für die Zweitbesten dagegen nicht selten bereits zuviel.

Wer sein Examen erfolgreich abgeschlossen und sein Studium beendet hat, hat die Mühen der Berge zunächst einmal hinter sich gebracht; die Mühen der Ebene liegen noch vor ihm. Wenn Sie in der Ebene an Ihr Studium zurückdenken und die Anstrengungen „der Berge“ durch die Vergrößerungs- und Verkleinerungsgläser der Erinnerung betrachten, wird Ihnen sicher manches anders erscheinen als jetzt, wo die Eindrücke noch frisch sind. Ich wünsche Ihnen, daß Ihre späteren Rückblicke einmal nicht ohne einen Anflug von Heiterkeit sein werden. Ich wünsche Ihnen aber auch, daß der ernste Sinn, dem Ihr Studium letztlich gewidmet war, dabei ebenfalls zu seinem Recht kommt. In diesem doppelten Sinn wünsche ich Ihnen für Ihren weiteren Weg alles Gute.



1. Cicero, De oratore, I 193 und 246.
2. Zitiert nach Bodo Pieroth, Jura 1989, S. 390.
3. Zitiert nach Pieroth, Jura 1993, S. 415.
4. Zitiert nach Pieroth, Jura 1991, S. 164.
5. Heinrich Heines Briefwechsel (hrsg. von Friedrich Hirth), Bd. 1, 1914, S. 294, 332, 368 f (vom 29.2.1824, 25.10.1824, 22.7.1825).
6. Max Hachenburg, Lebenserinnerungen, 1978, S. 43.
7. Zitiert nach Pieroth, Jura 1991, S. 500.
8. Gustav Radbruch, Der innere Weg, 2. Aufl. 1961, S. 48.
9. Heinrich Kipp, Rückblicke, 1992, S. 76.
10. Zitiert nach Kasper, Jura 1991, S. 500 (501).
11. Radbruch, Aphorismen zur Rechtsweisheit, 1963, Nr. 552.
12. Radbruch (Fn. 8), S. 38 f.
13. Zitiert nach Pieroth, Jura 1991, S. 668.
14. Zitiert nach Pieroth, Jura 1991, S. 446.
15. Zitiert nach Pieroth, Jura 1989, S. 166.
16. Hans Liermann, Erlebte Rechtsgeschichte, 1976, S. 36.
17. Zitiert nach Ernst Fuchs, Die Justiz Bd. 1 (1925/26), S. 233 f.
18. Levin Goldschmidt, Rechtsstudium und Prüfungsordnung, 1887, S. 354.
19. Heinrich Leo, Aus meiner Jugendzeit, 1880, S. 137 f.
20. Robert von Mohl (anonym), Über Staatsdienstprüfungen, Deutsche Vierteljahrsschrift1841, 4. Heft, S. 79.
21. Viktor von Maibom, Die Lebenserinnerungen des Juristen Viktor von Maibom, 1992, S. 52.
22. Hachenburg (Fn. 6), S. 43.
23. Hachenburg (Fn. 6), S. 181.
24. Radbruch (Fn. 11), Nr. 563.
25. A. F. J. Thibaut, Heidelberger Jahrbücher der Literatur 1821, S. 221 (223).