Rechtsphilosophie und juristische Methodenlehre [1]


In: Zeitschrift für Rechtsphilosophie NF 4 (2020), 153 – 164

I. Der Graben zwischen Rechtsphilosophie und Jurisprudenz
1. Die Rechtsphilosophie muß zu den Juristen kommen, nicht umgekehrt
Hegels "Grundlinien der Philosophie des Rechts", in denen viele noch immer eine Art Bibel der Rechtsphilosophie erblicken, erschienen vor 200 Jahren im Druck. Sie sind damit etwa 20 Jahre jünger als Kants Metaphysik der Sitten oder Fichtes Grundlage des Naturrechts, aber keineswegs leichter zugänglich als diese. Um zu verstehen, was uns Hegel zu sagen hat, ist eine immense Übersetzungsarbeit erforderlich. Viel anders verhält sich dies mit den einschlägigen Schriften Kants und Fichtes allerdings auch nicht, und andere Rechtsdenker sind nicht weniger widerspenstig. Wer nur über ein begrenztes Zeitbudget verfügt, wird daher fragen: Wer macht sich eigentlich diese Mühe und wenn ja, warum?

Wie der Blick in das Programm einer beliebigen rechtsphilosophischen Veranstaltung zeigt, sind dazu offenbar nur "echte" Philosophen" und Nebenfachrechtsphilosophen bereit; juristische Dogmatiker ohne philosophische Nebenfachvenia, juristische Praktiker und Jurastudenten sind hier kaum zu finden. Von denen, die einer spezifisch juristischen Beschäftigung nachgehen, bleibt daher nur eine verschwindend geringe Zahl. Die meisten Juristen können mit dem Namen eines Klassikers wie Hegel wenig anfangen, sie haben allenfalls gehört, daß er ein Vertreter der absoluten Straftheorie war, die heute meist als "überholt" gilt. Ähnlich ist das Verhältnis zu anderen Größen dieses Genres. Bei akademischen Festansprachen kann man zwar regelmäßig hören, daß die "Gerechtigkeit" über den grünen Klee gepriesen wird und alle Bemühungen von Rechtswissenschaft, Lehre und Praxis nur dem einen Ziel gelten sollen, "gerecht" zu entscheiden. Aber solche Behauptungen sind allzu wohlfeil und werden um so bereitwilliger aufgetischt, je weniger philosophische Kenntnisse der Redner aufzubieten hat.

Was ist der Grund für dieses Desinteresse? Nach meinem Eindruck zweierlei, nämlich 1) daß die Juristen ihre eigenen Probleme haben, die ihnen auch so genug zu schaffen machen, und 2) daß sie außerdem kaum je erfahren haben, daß ihnen die Rechtsphilosophie dabei behilflich gewesen wäre. Philosophen gehen heute meist nicht mehr auf die Agora, sondern wenden sich in hochdifferenzierter Sprache vorwiegend an ihresgleichen. Das ist dem fächerübergreifenden Dialog nicht förderlich. Unter diesen Bedingungen wird ein Jurist nämlich kaum geneigt sein, sich zusätzlich zu seinen "hauseigenen" Problemen auch noch die der Rechtsphilosophie aufzuladen. Wer erwartet, daß sich die Juristen von sich aus der Rechtsphilosophie zuwenden, liegt daher falsch. Vielmehr muß die Rechtsphilosophie zu den Juristen kommen.

2. Juristische Methodenlehre als Brücke
Dazu muß man jedoch zunächst einmal wissen, was Juristen umtreibt und worin ihre Aufgabe besteht. Wenn man stark vereinfacht, kann man sagen, daß Juristen sowohl bei der Gesetzgebung wie bei der Anwendung von Gesetzen mitwirken. An der Normsetzung sind relativ wenige beteiligt. Dagegen betrifft die Normanwendung mehr oder weniger alle, wenn auch in unterschiedlichen Zusammenhängen. Ihre Bedeutung äußert sich nicht zuletzt darin, daß in der Juristenausbildung traditionell allein die Normanwendung gelehrt und geprüft wird. Kenntnis und korrekte Anwendung des Gesetzes bilden den Kern der deutschen Juristenausbildung.

Der Schluß hieraus ist naheliegend: Wenn die Rechtsphilosophie die Juristen erreichen will, muß sie sich bei der Gesetzesanwendung ins Gespräch bringen. Sie muß m.a.W. die juristische Methodenlehre okkupieren, ähnlich wie dies in der Vergangenheit Philologie, Logik und Semantik auch getan haben. Was von der Rechtsphilosophie nicht in die juristische Methodenlehre eingeht, ist für die allermeisten Juristen nicht existent. Darüber zu klagen, ist müßig. Wer den bestehenden Zustand kritisiert, sollte vielmehr versuchen, ihn ändern. Dar-über einige Überlegungen anzustellen, ist der Zweck dieses Beitrags.

Wer mit den Niederungen des akademischen Rechtsunterrichts nicht vertraut ist, könnte an dieser Stelle fragen: Was ändert es eigentlich, wenn bestimmte Dinge nicht mehr als "Rechtsphilosophie", sondern als "juristische Methodenlehre" ausgeschildert werden? Der Insider jedoch weiß, daß der Unterschied enorm ist: Die juristische Methodenlehre ist eine Disziplin, die sich gleichermaßen an alle Juristen wendet und auf die sich auf die eine oder andere Weise auch alle einlassen müssen, während die Rechtsphilosophie im Ruf eines Orchideenfachs steht. Im akademischen Unterricht tritt die Rechtsphilosophie heute nur noch als eines von vielen Schwerpunktfächern in Erscheinung, das – selbst wenn es notgedrungen mit Rechtsgeschichte verbunden wird – nur eine Handvoll Interessenten anzieht, während die allermeisten Studenten die Universitäten durchlaufen, ohne je mit Rechtsphilosophie in Berührung gekommen zu sein. Im Unterschied zur Rechtsphilosophie wird die juristische Methodenlehre normalerweise als eine Pflichtveranstaltung für alle angeboten und kann aus Gründen des wissenschaftlichen Renommees nicht ganz so leicht auf ein Nebengleis abgeschoben werden. Was in die juristische Methodenlehre Eingang findet, hat daher Aussicht, von allen gehört und bedacht zu werden. Deshalb liegt es im ureigensten Interesse der Rechtsphilosophie, sich diese Möglichkeit nicht entgehen zu lassen.

II. Was kann die Rechtsphilosophie für die Methodenlehre leisten?
Wer die Rechtsphilosophie für die juristische Methodenlehre fruchtbar machen will, kann das selbstverständlich nicht in der Weise tun, daß er rechtsphilosophische Themen in methodologische umetikettiert, sondern muß sich auf das Programm der Methodenlehre ernsthaft einlassen. Das geht nicht ohne eigene Einbußen ab. So ist etwa die beliebte "Geschichte der rechtsphilosophischen Lehrmeinungen" auf diesem Weg nicht zu retten, ebenso nicht die ausführliche Beschäftigung mit einzelnen Rechtsdenkern, so wichtig diese auch sein mögen. Das ist der Preis, der für den erstrebten Aktualitätsgewinn zu zahlen ist. Manchem mag er theoretisch als zu hoch erscheinen. Praktisch gesehen jedoch ist er gering; denn die Möglichkeit, Rechtsphilosophie wie bisher als sog. Schwerpunktfach anzubieten, bleibt hiervon unberührt. Das Ziel besteht vielmehr darin, der Rechtsphilosophie unabhängig hier-von einen neuen Wirkungskreis zu erschließen , in dem sie ein aufgeschlossenes Publikum findet.

Was indessen bleibt im Rahmen der Methodenlehre von dem überkommenen Repertoire der Rechtsphilosophie übrig und was kann diese für die juristische Methodenlehre leisten, ohne sich etwas zu vergeben? Ich möchte im folgenden auf vier Punkte eingehen.

1. Rechtsquellenlehre
Eine Thematik, die sich für eine rechtsphilosophisch inspirierte Bearbeitung geradezu anbietet, ist die Rechtsquellenlehre. Diese ist für die juristische Methodik von fundamentaler Bedeutung, weil hier grundlegende Weichenstellungen getroffen werden. Sie wird jedoch meist recht oberflächlich abgehandelt, weil es an tieferer Einsicht in die damit zusammen-hängenden Probleme fehlt.

a) Als Rechtsquellen werden im Gefolge der positivistischen Doktrin meist nur förmliche Normen (Gesetze, Verordnungen, Satzungen) angeführt, nach Kelsen auch Verwaltungsakte, Urteile und Rechtsgeschäfte. [2] Nach verbreiteter Vorstellung soll es sich dabei um Imperative handeln, die sich einer autoritativen "Setzung" verdanken und so etwas wie Recht in einem normativen Niemandsland allererst hervorbringen. Der Begriff Rechtsquelle hat hierbei die Bedeutung von Rechtsentstehungsquelle, weil es unabhängig hiervon, wie unterstellt wird, kein Recht gibt. Die folgerichtige Konsequenz dieser Auffassung wäre eine subjektive Auslegung, welche die Intentionen des Normgebers in dem sprachlich vorgegebenen Rahmen optimal zur Geltung bringt. In vielen Bereichen wird dies tatsächlich auch heute noch so praktiziert. Allerdings hat die im Verlauf der Methodendiskussion sich einstellende Erkenntnis, daß Gesetzesauslegung ohne die ständige Einschleusung neuer Rechtsgedanken kaum möglich ist, einen Trend zur objektiven Auslegung bewirkt. Diese bedient sich vielfach einer Bezugnahme auf "Werte", deren genauer Status und Stellenwert ungewiß bleibt. Dem Dezisionismus erwächst dadurch kein wirkliches Gegengewicht.

In Anlehnung an Kelsen könnte man daher sagen: Der Gesetzgeber setzt im Rahmen der ihm von der Verfassung verliehenen Kompetenz das Recht im Prinzip willkürlich, so daß eine inhaltliche Kritik daran ins Leere läuft. Der Rechtsanwender setzt im Rahmen der ihm vom Gesetz verliehenen Kompetenz die konkrete Entscheidung ebenso spontan, weshalb auch seine Entscheidung ein "Faktum" bildet, das man grundsätzlich hinzunehmen hat.

b) In der klassischen Rechtsphilosophie begegnet uns eine andere Vorstellung. Diese war noch dazu herrschend, bis sie durch den das akademische Schrifttum dominierenden Positivismus verdrängt wurde. Danach sollte der Gesetzgeber das Recht nicht schaffen, sondern es nur positivieren. Das Recht wurde mithin als eine primär gedankliche Entität aufgefaßt, das bereits eine ideale Existenz hatte, bevor es durch das Gesetz in die Form einer realen Regelung überführt wurde. Eine solche Bindung des Gesetzgebers an ein der Idee nach vorgegebenes Recht kommt zwar gesetzgeberischen Allmachtphantasien wenig entgegen, um so mehr jedoch den Interessen des Bürgers, dem in vieler Beziehung an einer Begrenzung der gesetzgeberischen Macht gelegen ist.

Von diesem Denken war vor allem das (idealistische) neuzeitliche Naturrecht durchdrungen, das die wesentlichen Grundlagen des modernen Recht gelegt hat. Wir finden diese Vorstellung aber auch bei Rechtsdenkern wie Kant, Fries und Hegel. Sie läßt sich sogar bei der historischen Rechtsschule nachweisen, auch wenn diese der Gesetzgebung grundsätzlich abgeneigt war und auf die Kraft des "Gewohnheitsrechts" setzte. Denn als Grundlage dieses Gewohnheitsrechts wurde hier nicht die gleichmäßige Übung, sondern die Überzeugung aller oder jedenfalls ihrer juristischen Repräsentanten angesehen. [3] Auch dem Gewohnheitsrecht wurde daher, unabhängig davon, ob es sich in habituellen Handlungen äußerte, eine vorpositive Existenz zugeschrieben. Blickt man auf die Gegenwart, so fügen sich auch die Grundrechte, mit denen ursprünglich naturrechtlich begründete Postulate in die Form verbrieften Rechts gebracht wurden und die nach verbreiteter Auffassung eine dem einfachen Gesetz vorgegebene "objektive Wertordnung" bilden, in dieses Bild.

Entscheidend ist, daß der Positivierung nach dieser Auffassung ein Erkenntnisakt vorgeschaltet ist: Der Gesetzgeber muß sich zuerst bemühen, das "an sich seiende Recht" zu erkennen, und es anschließend in die Form eines förmlichen Gesetzes bringen. Im Hinblick darauf kann man das Gesetzgebungsverfahren auch als ein Verfahren der organisierten Rechtserkenntnis und die Gesetze als Gestalt gewordene Erkenntnisakte begreifen. Der Umgang mit solchen gestaltet sich zwangsläufig anders als mit Imperativen, hinter denen nur der Machtwille eines vorübergehenden Machthabers steht: Man führt sie nicht weisungsgemäß aus, sondern denkt sie im Hinblick auf sich wandelnde Problemlagen stimmig fort. Aus eben diesem Grund kommt der Frage, in welchem Sinn eigentlich Gesetze Rechtsquellen darstellen, eine eminente Bedeutung zu.

Versteht man Gesetze ausschließlich als gesetzgeberische Imperative, so ignoriert man ihren Bezug auf einen dem Gesetzgeber vorgegebenen Rechtsgedanken. Faßt man sie dagegen, was ihrer Natur als Rechtsnormen weit mehr entspricht, als Erkenntnisakte auf, so stellt sich dem Rechtsanwender die Aufgabe, die in ihnen verkörperte objektive Rechtserkenntnis nachzuvollziehen und fortzusetzen. Es ist nicht schwer zu erkennen, daß die traditionelle juristische Methodenlehre hier eine Lücke aufweist, die mit den herkömmlichen Mitteln nicht geschlossen werden kann. In der Sache geht es darum, die Rechtsquellenlehre auf ein Niveau zu bringen, das der Komplexität der damit verbundenen Probleme adäquat ist. Auf lange Sicht ist nur die Rechtsphilosophie in der Lage, die Methodenlehre davor zu bewahren, auf das Niveau einer Gebrauchsanweisung für subalternes Personal herabzusinken.

2. Rechtsrichtigkeit und Vertretbarkeit
Ein anderer Punkt, der freilich damit zusammenhängt, ist folgender: Die juristische Methodenlehre ist ebenso wie die Rechtsdogmatik eine normative Wissenschaft: sie soll nicht beschreiben, was der Rechtsanwender faktisch tut, sondern aufzeigen, was er zu tun hat, um zum Ziel zu gelangen. Aber worin genau besteht dieses Ziel eigentlich? Soll der Rechtsanwender zur allein richtigen oder aber zu einer vertretbaren Entscheidung geführt werden? Darüber ist bereits viel diskutiert worden, aber die Auseinandersetzung ist keineswegs beendet, weil sie eng mit der Vorstellung verknüpft ist, die man sich von dem anzuwenden-den Recht macht.

a) Ein im Umgang mit idealen Erkenntnisgegenständen gebräuchliches Hilfsmittel besteht darin, diese in Anlehnung an Gegenstände der Lebenswelt zu verdinglichen (zu "ontologisieren"), um sie leichter beschreibbar zu machen und unserer Vorstellung davon Kontinuität zu verleihen. So stellen wir uns auch Gesetze gern in Analogie zu körperlichen Dingen vor, die man "aufheben", "überlagern", "einschränken" oder für "unwirksam" erklären kann. [4] Betrachtet man Gesetze in Anlehnung an reale Objekte, so ist man geneigt, sich vorzustellen, daß die gesuchten Entscheidungen in ihnen stecken wie Dinge in einem Behältnis: sie sind entweder darin enthalten – oder aber nicht. Tertium non datur. Das ist zwar etwas hemdsärmelig, in vielen Fällen aber dennoch hilfreich, da die praktische Brauchbarkeit der von uns benutzten Hilfsmittel nicht notwendig davon abhängt, welchen theoretischen Ansprüchen sie genügen. Auch in diesem Fall leistet die Verdinglichung gute Dienste, auch wenn die damit einhergehende Vorstellung mangelhaft ist. Der Erfolg der Begriffsjurisprudenz liefert dafür ein schlagendes Beispiel.

Beim Umgang mit Prinzipien jedoch kann man sich auf diese Weise nicht behelfen. Prinzipien gleichen nicht fest begrenzten Entitäten, sondern eher konturlosen Wattebäuschen, weshalb eine "Subsumtion" im sonst üblichen Sinn hier ausscheidet.

b) Oliver Lepsius, als Verfassungsrechtler häufiger mit solchen Prinzipien befaßt, hat daher eine gestufte Vorstellung von den Rechtsquellen im weitesten Sinn entwickelt: In Urteilen begegnet uns das Recht danach bildhaft gesprochen in einer Art "Festzustand". In Gesetzen befindet es sich im Hinblick auf deren relative Offenheit und Veränderlichkeit gewissermaßen in einem "flüssigen" Zustand und in Prinzipien endlich in einem "gasförmigen" Zustand. [5] Dieses Bild macht nicht nur die unterschiedliche Fixierung der rechtlichen Substanz anschaulich; es legt auch nahe, daß die verschiedenen Aggregatszustände nahtlose Übergänge aufweisen: Es gibt Gesetze, die Urteilen ähnlich sind (Maßnahmegesetze), und andere, die sich in unterschiedlichem Grad Prinzipien nähern (Generalklauseln). Panta rhei – alles fließt.

Wer sich an dieser Vorstellung orientiert, kann nicht ohne weiteres sagen, daß ein Gesetz eingreift, wenn seine Tatbestandsmerkmale erfüllt sind. Es kommt vielmehr darauf an, um was für eine Art Gesetz es sich handelt; je nachdem sind auch die zu erfüllenden Voraussetzungen andere. In einem Fall kann man vielleicht in begriffsjuristischer Manier durchentscheiden, in einem anderen bedarf es einer sorgsamen Abwägung dessen, was dafür und was dagegen spricht. Das letztere legt die Deutung nahe, daß eine bestimmte Auslegung des Gesetzes mehr oder weniger vertretbar sein kann. Was bei verdinglichender Betrachtungsweise gegebenenfalls in ein festes Regel-/Ausnahmeverhältnis gepackt werden muß, kann beim Abgleich mit Prinzipien mit der weichen Kategorie der Vertretbarkeit erfaßt werden.

Diese Denk- und Ausdrucksweise erleichtert manches, u.a. die Verständigung mit Interpreten anderer Auffassung: Man muß dem, der anderer Meinung ist als man selbst, nicht mehr sagen, daß er "falsch" liege, man kann seine Meinung für "vertretbar" erklären, ohne die eigene aufzugeben. Im akademischen Unterricht ist die Vertretbarkeit von Meinungen heute fast an die Stelle der früheren Richtigkeit getreten. Den juristischen Anfängern wird immer wieder versichert, man könne jede Meinung "vertreten", es müsse nur mit "vertretbaren" Argumenten geschehen. Auf diese Weise hat scheinbar jeder ein bißchen recht, auch wenn er vielleicht unrecht hat. So verhält es sich im täglichen Leben oft genug wirklich.

c) Diese Konnivenz endet jedoch im Prozeß. Denn der Prozeß, auf den es im Ernstfall hinausläuft, ist ein binäres Spiel. Er ist darauf angelegt, Gewinner und Verlierer zu produzieren. Der Richter kann daher dem Kläger nicht zu 60 % recht geben, weil seine Rechtsauffassung "gut vertretbar" erscheint, und dem Beklagten zu 40 %, weil auch dieser durchaus "vertretbar" argumentiert hat. Wenn es zum Schwur kommt, muß der Richter alle Vertretbarkeiten in ein klares Ja oder Nein übersetzen. "51-prozentige Vertretbarkeit" heißt dann eben Ja und "49-prozentige Vertretbarkeit" heißt Nein, da hilft alles nichts. Auch Rechtsdogmatik und juristische Methodenlehre können dieser Entscheidung nicht ausweichen. Wenn sie dem Richter nicht Steine statt Brot geben wollen, müssen sie die Rechtsanwendung auf "richtig" oder "falsch" zuspitzen. Schönheitspreise für ansprechende Argumentation werden woanders verliehen.

Genau damit jedoch ist die Vorstellung einer eindeutig richtigen und einer ebenso eindeutig falschen Rechtsanwendung bzw. Gesetzesauslegung wieder da. Das heißt zwar nicht, daß die verdinglichende Vorstellung rechtlicher Zusammenhänge eben doch die "richtige" ist – wer besseres findet, wird sich mit besserem behelfen. Wohl aber zeigt sich darin, daß man im Recht und der Rechtsanwendung die Vorstellung eines absolut Richtigen so leicht nicht los wird. Sie bildet den Motor des Rechts ebenso wie die Wahrheit den der Erkenntnistheorie. Dies hat Hans Ryffel vor Jahren zu tiefschürfenden Reflexionen veranlaßt. Ihm schien, daß die Vorstellung eines "Richtigen" – was genau auch immer dies sein mag – zu den Ermöglichungsbedingungen menschlicher Praxis überhaupt gehört. Wo diese Vorstellung aufgegeben wird – und das geschieht auch da, wo man sie durch mehr oder weniger eindrucksvolle "Vertretbarkeiten" ersetzt –, "würde alle Praxis als sinnlos in sich zusammenfallen". [6] Den Schwierigkeiten, die sich für manche aus der Vorstellung einer ideal vorgegebenen Ordnung ergeben, wollte Ryffel dadurch begegnen, daß er den Gedanken einer vorgegebenen durch den einer aufgegebenen Ordnung ersetzte. [7]

In der Sache jedenfalls handelt es sich hier um den zweiten "rechtsphilosophischen Stachel" im Fleisch der juristischen Methodenlehre. Auch dieser bietet einer auf den Aufgabenbereich des Rechtsanwenders eingehenden Rechtsphilosophie ein reiches Betätigungungsfeld. Unter anderem ließe sich der juristischen Methodenlehre damit der Ernst zurückgeben, den sie unter dem Einfluß der Vertretbarkeitsjurisprudenz zu verlieren im Begriff ist.

3. Das Reich des Rechts – von innen her betrachtet
Die Rechtsphilosophie richtet unseren Blick auf das "Ganze" und führt uns an die Grenzen des rechtlichen Denkens überhaupt. Die juristische Methodenlehre dagegen hat es nicht selten mit den kleinkariertesten Denkoperationen zu tun, die man sich vorstellen kann. Auf den ersten Blick ist daher schwer zu begreifen, was eine bis ins Letzte ausgreifende Rechtsphilosophie einer solchen Methodenlehre zu geben vermag. Und doch ist gerade die Rechtsphilosophie in der Lage, die Welt des Rechts von ihren unscheinbarsten Elementen her zu erschließen.

a) Ein glänzendes Beispiel dafür hat Ronald Dworkin in seinem faszinierenden Werk Law's Empire vorgelegt. [8] Dieses Buch ist im Grunde nichts anderes als eine ungemein geistreich verfaßte Methodenlehre des US-amerikanischen Rechts, in der zugleich viele rechtsphilosophische Fragen aufgeworfen und abgehandelt werden. Zwar geht es darin meist um Case Law, aber dies fällt in unserem Zusammenhang nicht ins Gewicht. Entscheidend ist vielmehr, daß die Welt des Rechts hier gleichsam von unten, von der Rechtsanwenderperspektive her erarbeitet wird. Der Blick beginnt bei banalen Problemen des juristischen Alltags, aber er endet bei dem, was große Rechtsphilosophie schon immer im Visier hatte. Dem Rechtsanwender wird dadurch Schritt für Schritt vor Augen geführt, auf welchem Boden er sich eigentlich bewegt und welchen Anforderungen er sich stellen muß, wenn er seiner Aufgabe gerecht werden will. Bekanntlich hat Dworkin den idealen Rechtsanwender mit einem juristischen Herkules verglichen. Ein so hochgestecktes Ziel kann wahrscheinlich nur die Rechtsphilosophie dem Rechtsanwender vorgeben. Im Vergleich dazu verblassen die gewöhnlichen "Rezeptbücher" der Rechtsanwendung zur Billigware.

b) Einen umfassenden Bogen schlägt auch Hans-Martin Pawlowski in seiner "Einführung in die juristische Methodenlehre", die der philosophischen Untermauerung der herkömmlichen Methodenlehre gewidmet ist. Eine Schwierigkeit dieses Buches ist freilich die, daß es nicht ohne weiteres als juristische Methodenlehre erkennbar ist, sondern die Grenzen dieses Genres eher sprengt. Wer den Erwartungen entsprechen will, die an eine juristische Methodenlehre allgemein gestellt werden, dürfte gut beraten sein, sich grundsätzlich im Rahmen der hier üblichen Themen und Kontexte zu halten und nur gelegentliche Ausblicke auf die Tiefendimensionen des Rechts zu eröffnen.

4. Rationaler Diskurs über das Recht im Einzelfall
Die juristische Methodenlehre umfaßt auch die sog. Technik der "Fallbearbeitung". Nach verbreiteter Auffassung handelt es sich dabei um einen Schematismus ohne eigenen Erkenntniswert. Das ist freilich weit gefehlt. Tatsächlich geht es dabei um die Grundlagen eines rationalen juristischen Diskurses.

Das in der zivilrechtlichen Fallbearbeitung gern als "Anspruchsmethode" bezeichnete Argumentationsmuster hat seine Grundlage im Procedere miteinander streitender Parteien. Dem Kläger obliegt es im Prozeß, das von ihm behauptete Recht schlüssig vorzutragen; Sache des Beklagten ist es, vom Kläger Beweis zu fordern oder ihm mit Einreden entgegenzutreten, auf die der Kläger ähnlich reagieren kann wie der Beklagte auf die Klage. Die Kunst, diesen formalisierten Diskurs übersichtlich darzustellen und durch seine Zerlegung in Einzelteile den "Fall" in sonst kaum zu erreichender Rationalität entscheidbar zu machen, firmiert unter dem Namen "Relation". [9] In der Praxis kommt der Relation die Aufgabe zu, den Mitgliedern eines Kollegialgerichts durch den "Berichterstatter" die essentialia des Falles geordnet vorzutragen und auf diese Weise eine rationale Entscheidung vorzubereiten. Filippo Ranieri hat in diesem Verfahren der diskursiven Entscheidungserarbeitung ein Moment gesehen, das den kontinentaleuropäischen Juristen nicht weniger geprägt hat als die Gesetzesauslegung mit Hilfe des sog. Canones. [10] Eben dieses Verfahren hat in Deutschland eine genauere Ausarbeitung erfahren als irgendwo sonst. [11] Im Ausland ist die deutsche Juristenausbildung deswegen vielfach bewundert worden; wer mit der Anspruchs- und Relationsmethode näher in Berührung gekommen ist, hat nicht selten versucht, diesen Denkstil nachzuahmen. Nur in Deutschland selbst wird dieses Verfahren nicht selten geschmäht, weil man sich nicht mehr bewußt ist, daß es dabei um die Grundlagen eines formalisierten juristischen Diskurses überhaupt geht. Aufgabe der Rechtsphilosophie könnte es sein, den überpositiven Kern dieses juristischen Diskurses herauszuarbeiten und allgemein einsichtig zu machen. [12]

III. Warum Rechtsphilosophie an juristischen Fakultäten?
Die bisherigen Überlegungen waren dem Ziel gewidmet, der Rechtsphilosophie ein Wirkungsfeld zu erschließen, auf dem sie grundsätzlich alle Juristen zu erreichen vermag. Dabei wurde stillschweigend vorausgesetzt, daß daran aus juristischer Sicht auch ein Interesse besteht. Juristen wird man jedoch nur dann dafür gewinnen können, sich auf rechtsphilosophische Fragen einzulassen, wenn es dafür aus juristischer Sicht Gründe gibt.

1. Das Primärziel der Juristenausbildung
Die deutsche Juristenausbildung befindet sich traditionell unter staatlicher Regie. Bereits die erste Abschlußprüfung ist keine Universitätsprüfung, sondern ein Staatsexamen, an dem neben Universitätslehrern auch juristische Praktiker (Richter, Staatsanwälte, Verwaltungsbeamte, Notare) beteiligt sind. In staatlichen Justizausbildungs- und Prüfungsordnungen wird ein verbindlicher Stoffkanon für Studium und Abschlußprüfung vorgegeben. Darin zeigt sich, daß der Staat an dem Wie der Juristenausbildung stark interessiert ist. Geht es doch darum, künftige Praktiker heranzuziehen, die den juristischen Betrieb des modernen Staates reibungslos aufrechterhalten und fortsetzen können. Dazu müssen sie in der Lage sein, Rechtsberatung zu leisten, Prozesse zu führen, Anklagen zu erheben, Rechtsstreitigkeiten zu vermitteln oder zu entscheiden und überhaupt die überbordenden Schreibtische in Justiz und Verwaltung von Akten freizubekommen. Für all dies sind zunächst einmal andere als rechtsphilosophische Kenntnisse und Fertigkeiten erforderlich. Wer diese nicht auf-zuweisen hat, scheidet aus. Daran vermag auch ein noch so gediegenes rechtsphilosophisches Wissen nichts zu ändern.

2. Juristische Selbstreflexion
Wenn es ein spezifisch juristisches Interesse an Rechtsphilosophie gibt, so kann es nur da-rauf beruhen, daß die den juristischen Fakultäten anvertraute Ausbildung künftiger Praktiker auf wissenschaftlicher Grundlage erfolgen soll. Darin liegt eine Absage an ein rein technizistisches Rechtsverständnis, wie es für die unteren Chargen des rechtlichen Apparats hinreichend sein mag, und eine Aufforderung zur Selbstreflexion. Wer sich mit Rechtsfragen eingehend beschäftigt, weiß, daß es in ihm nicht selten zu rumoren beginnt und er getrieben wird, über die scheinbar unverrückbaren Grenzen hinaus zu fragen. Soll dieses Weiterfragen nicht abgeschnitten, sondern gefördert werden, weil das Recht nur dadurch davor bewahrt werden kann, zu einer formellen Herrschaftstechnik zu werden, so bedarf es einer Reflexionsebene, wie sie nur die Rechtsphilosophie zur Verfügung stellt.

Das Bedürfnis nach Selbstreflexion macht sich vor allem im Strafrecht geltend, weil es hier über die sonst üblichen Folgen der Unrechtsreaktion hinaus – nämlich Abwehranspruch, Schadensersatzanspruch, Bereicherungsanspruch – noch eine weitere gibt: die Strafe, die jeden nachdenkenden Menschen in Erklärungsnöte versetzt. Eng damit zusammen hängt das Problem der Handlungsfreiheit, das nirgends eine solche Relevanz erreicht wie im Strafrecht. Im Zivilprozeßrecht dagegen wirft die Lehre vom Prozeßzweck Probleme auf, die sich auf rein technische Weise nicht beantworten lassen. Von diesen speziellen Problemen abgesehen, konfrontiert uns die Rechtsanwendung ganz allgemein mit der Frage, was genau eigentlich das Recht ist, das im Wege der Rechtsanwendung zur Geltung gebracht werden soll.

Spannt man den zeitlichen Bogen etwas weiter, so zeigt sich, daß die Verbindung von Rechtsphilosophie und juristischer Methodenlehre nicht ganz so neu ist, wie es scheinen könnte. Im frühen 19. Jahrhundert war es in vielen Wissenschaften üblich, Studenten mit einer Vorlesung über "Methodologie und Enzyklopädie" in ihr jeweiliges Fach einzuführen. Die Enzyklopädie sollte dabei einen Überblick über das große Ganze verschaffen, die Methodologie in die jeweilige Denk- und Arbeitsweise überhaupt einführen. Dementsprechend gab es auch an der juristischen Fakultät Vorlesungen über "Enzyklopädie und Methodologie des Rechts", die von entsprechenden Lehrwerken begleitet waren. Diese Veranstaltungen wurden allgemein der Rechtsphilosophie zugeordnet, weil sie über den sonst üblichen Umkreis des juristischen Denkens hinausführten. So nannte etwa auch Eduard Gans seine in Fortführung von Hegels "Grundlinien der Philosophie des Rechts" gehaltenen Vorlesungen eine "wahre Enzyklopädie des Rechts". Daß hier von juristischer Methodenlehre meist nur wenig, dafür von Rechtsgeschichte um so mehr die Rede war, war dem Trend des historischen Zeitalters geschuldet.

Aus der früheren Enzyklopädie und Methodologie des Rechts ging in der Folge die "Einführung in die Rechtswissenschaft" hervor , die sich zunehmend auf die Herausarbeitung der leitenden Grundgedanken beschränkte. Im Zuge der Veränderungen, die das juristische Studium erfuhr, vor allem auch der Veränderung des studierenden Publikums selbst, war auch dieser Veranstaltung kein allgemeiner Zuspruch zu sichern. Sie führt an vielen Universitäten ein bloßes Schattendasein oder ist ganz entfallen. Wer auf eine Verbindung von juristischer Methodenlehre und Rechtsphilosophie hinarbeitet, bewegt sich also durchaus im Gefolge früherer Ansätze, wenn auch ohne den enzyklopädischen Anspruch. Was ehemals als Enzyklopädie am Anfang des Studiums stand, ist heute als Repetitorium an dessen En-de gerückt.

IV. Exempla docent
Pläne allein verrücken keine Berge. Es bedarf auch geeigneter Mittel, um sie in die Tat umzusetzen. Eine neue oder auch nur neu konzipierte Lehrveranstaltung läßt sich nur dann dauerhaft etablieren, wenn von einigen Protagonisten geeignete Lehrbücher dafür verfaßt werden. Das allein ermöglicht es vielen Dozenten, solche Vorlesungen zusätzlich zu ihrem sonstigen Programm anzubieten, und es gibt den Studenten die Möglichkeit, das in der Vorlesung Gebotene vorzubereiten und nachzuarbeiten.

Exempla docent: Mit seiner Methodenlehre der Rechtswissenschaft von 1960 hat Karl Larenz der juristischen Methodenlehre zu einem bis dahin nicht erreichten literarischen Niveau verholfen und die akademische Lehre dieses Fachs auf Jahrzehnte hinaus bestimmt. Mit einem Werk, das der juristischen Methodenlehre auf vergleichbare Weise neue Gedanken zuführt, müßte sich dieser Erfolg wiederholen lassen. Ein Artikel wie dieser kann dafür nur als Anregung dienen. Entscheidend ist, ob sich Autoren finden werden, welche die Pläne in die Tat umsetzen. Wenn es daran fehlt, wird die Rechtsphilosophie das Schicksal der Rechtsgeschichte teilen, eine Alibiveranstaltung für einige wenige zu sein.


1. Der Beitrag enthält die näher ausgearbeitete Einleitung meines Vortrags auf der Hagener Tagung "200 Jahre Hegels 'Grundlinien der Philosophie des Rechts" am 12. 10. 2019.
2. Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934, 73 ff.
3. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814, 8 ff; näher Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung im bürgerlichen Recht nach der Rechtsquellenlehre des 19. Jahrhunderts, 1983, 25 ff.
4. Braun, Deduktion und Invention, 2016, 143 m.w.N.
5. Lepsius, Relationen: Plädoyer für eine bessere Rechtswissenschaft, 2016.
6. Ryffel, Rechts- und Staatsphilosophie, 1969, 294.
7. Ryffel (Fn. 6), 458 ff.
8. Dworkin, Law's Empire, Tenth Printing 1997, Harvard University Press.
9. Zimmermann, Klage, Gutachten und Urteil, 20. Aufl. 2011.
10. Ranieri, in: Oertmann (Hrsg.), Zwischen Formenstrenge und Billigkeit, 2009, 165; ders., Jus Commune 17 (1990), 9.
11. Stuckenberg, FS Frisch, 2013, 165.
12. Zu den kommunikationstheoretischen Basics Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, 31 ff, 155 ff.