Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft
Geleitwort zur chinesischen Ausgabe, Peking 2012
Vor fast 45 Jahren – ich war damals ein junger Mann von zwanzig – nahm mich der Zauber Gustav Radbruchs so sehr gefangen, daß ich meine bisherigen Berufspläne aufgab und mich entschloß, Rechtswissenschaft zu studieren. Ich begann mein Studium in Heidelberg, wo Radbruch zuletzt gelehrt hatte und wo noch immer etwas von dem humanistischen Gelehrtengeist zu spüren war, den er so sehr geschätzt hatte. Wenn ich heute der chinesischen Übersetzung seiner „Einführung in die Rechtswissenschaft“ einige einleitende Worte mit auf den Weg geben darf, so kann ich darin nur eine glückliche Fügung des Schicksals erblicken, die das allmählich herannahende Ende meines Berufslebens mit seinem Anfang verbindet. Denn es war just dieses Buch gewesen, das mich in jungen Jahren für das Studium des Rechts gewonnen hat, und wenngleich Radbruchs Lehrbuch der Rechtsphilosophie in der Folge eine größere Bedeutung für mich erlangt hat, so war es doch die „Einführung in die Rechtswissenschaft“, die mir die Welt des Rechts auf einfühlsame Weise geöffnet und den Wunsch hat entstehen lassen, etwas von dem Geist, der hier spürbar wird, in einer vielfach veränderten Zeit zu bewahren und an spätere Generationen weiterzugeben.
Was ist das Besondere dieses Buches, das von vielen Lesern bemerkt und herausgehoben wurde? Vergleicht man Radbruchs Einführung in die Rechtswissenschaft mit den Werken heutiger Autoren über diesen Gegenstand, so fällt zunächst auf, daß die modernen Verfasser überwiegend prüfungsbezogene und berufspraktische Ziele vor Augen haben. Sie bemühen sich darum, ein Abbild der Rechtsordnung im Kleinen zu geben und den Leser auf den technisch korrekten Umgang mit den Normen des Rechts vorzubereiten. Von nichts ist Radbruch weiter entfernt! Zwar deckt auch seine Darstellung die verschiedenen Rechtsgebiete des Privatrechts, des Strafrechts, des Verwaltungsrechts usw. ab und bezieht auch die juristische Methodenlehre in die Betrachtung mit ein. Aber Radbruch berichtet nicht nur, was andere gesagt oder verordnet haben, sondern er spricht aus der Perspektive und mit der Erfahrung eines Mannes, der über den Dingen steht, weil er auch noch in anderen Bereichen des Lebens zu Hause ist. Dazu sind nicht alle Juristen imstande. Die meisten haften an dem, womit sie aufgrund ihres Berufes täglich beschäftigt sind. Radbruch aber spricht wie Montesquieu über den „Geist der Gesetze“, nämlich über das, was die verschiedenen Sparten des Rechts mit den diversen Bereichen des kulturellen Lebens verbindet. Obschon Radbruch ein Vertreter des Positivismus war, ist das Recht für ihn nicht einfach ein Produkt des jeweiligen Gesetzgebers, sondern eine Kulturerscheinung, die tief verankert ist in der inneren Bildung eines Landes und seiner Zeit. Das kommt in allem zum Ausdruck, was er geschrieben hat, nicht zuletzt in der Anlage seiner Einführung in die Rechtswissenschaft.
Die Besonderheit dieses Buches liegt aber noch in etwas anderem. Es weist nämlich noch in anderer Hinsicht über das positive Recht hinaus und enthält auf versteckte Weise eine Einführung in Radbruchs Rechtsphilosophie. Damit ist ein Gegenstand angesprochen, der nicht auf alle Juristen eine anziehende Wirkung ausübt. Denn was, so denkt der Praktiker des Rechts, soll die Rechtsphilosophie zur Lösung derjenigen Probleme beitragen, mit denen Juristen im Alltag nun einmal beschäftigt sind? Radbruch tritt nicht auf mit dem Anspruch, dieses Vorurteil widerlegen zu können. Er zeigt vielmehr ganz schlicht die Voraussetzungen auf, von denen alle Juristen stillschweigend ausgehen, ohne sich über deren Bedeutung und Auswirkung viele Gedanken zu machen: die Unterscheidung von Sein und Sollen, die methodisch unüberbrückbare Kluft dazwischen und die faktische Verwurzelung des Rechts in beiden. Als Richtschnur dient ihm dabei die Philosophie Immanuel Kants, die er sich in einer Spielart des Neukantianismus zu eigen gemacht hat. Nach dem Niedergang der Philosophie Hegels hatte die Rechtsphilosophie an den deutschen juristischen Fakultäten lange Zeit keine Rolle mehr gespielt. Erst Rudolf Stammler war es gelungen, das Blatt wieder zu wenden. Aber Stammlers Formalismus war auf lange Sicht kein Erfolg beschieden. Eine glücklichere Hand bewies insoweit Radbruch.
Fragt man warum, so kann die Antwort nur lauten: weil er nicht nur in der kristallinen Welt philosophischer Begriffe, sondern auch in der Welt der Tatsachen, namentlich der Geschichte, der Wirtschaft und der Politik zu Hause war. Im Gegensatz zu den Werken manch anderer Kantianer sind Radbruchs Darstellungen „wirklichkeitshaltig“; sie schließen die reale Welt nicht aus, sondern nehmen sie in sich auf. Wer sich in der rechtswissenschaftlichen Literatur des 19. Jahrhunderts ein wenig auskennt, weiß, wieviel Radbruch dem Spätwerk Rudolf von Jherings verdankt. Radbruch hat daraus nicht nur den Zweckgedanken entlehnt, sondern läßt sich auch von der Wirklichkeitsnähe Jherings beeinflussen. Dieser hat die zahllosen Vorformen des Rechts in Sitte, Gewohnheit, Konvention, Etikette usw. erstmals genauer untersucht. Radbruch macht davon Gebrauch, um den angehenden Juristen das Recht von Erfahrungen her zu erschließen, die ihnen aus anderem Zusammenhang seit langem vertraut sind. Er lehrt sie gewissermaßen, die Welt mit juristischen Augen zu betrachten. Denn jedem, der dies tut, wachsen die tiefsten Erkenntnisse, welche die Rechtswissenschaft zu bieten hat, ganz von selbst zu.
Bücher haben ihre Schicksale und ihre Zeit. Radbruchs Einführung in die Rechtswissenschaft war ein glückliches Schicksal beschieden; aber ihre eigentliche Zeit ist vorbei. Radbruch war der Welt des Bildungsbürgers verhaftet. Diesen hatte er zur Voraussetzung und zum Adressaten. Manche seiner Anspielungen, die einmal bei jedem Leser Assoziationen auslösten, werden heute von vielen Studenten nicht einmal in dem Land mehr verstanden, in dem dieses Buch entstanden ist. Aber es hat seinen Wert deshalb keineswegs verloren; denn es setzt nach wie vor Maßstäbe, denen nachzustreben auch in einer veränderten Zeit und – wie ich hier wohl hinzufügen darf – in einer anderen Welt von Nutzen sein kann. Gute Bücher sind Botschaften an denjenigen, der in der Lage ist, sie zu verstehen und aufzugreifen. Sie gleichen Flaschenposten, die ausgesandt werden in der wahnwitzigen Hoffnung, daß jemand sie auffängt und daß dieser noch dazu derjenige ist, an den die Post gerichtet war. Aber genau das kommt immer wieder vor. Ich habe Radbruchs Flaschenpost vor fast einem halben Jahrhundert empfangen, und ich bin sicher, daß auch die Ausgabe in chinesischer Sprache Empfänger finden wird, die die darin enthaltene Botschaft verstehen und sich zu eigen machen. Auf diese Weise wird auch in Zukunft der Kreis von Menschen erhalten bleiben, die zwar nichts voneinander wissen, aber doch vom gleichen Geist beseelt sind.