10 Antithesen zur Reform des juristischen Studiums
In den folgenden Antithesen wirft der Autor pointiert die Frage nach dem Sinn des juristischen Studiums auf. Die juristische Ausbildung leidet an einem Widerspruch, der in der Massenuniversität nicht mehr zu kaschieren ist. Die Reform des juristischen Studiums läuft daher unter der Hand auf die Zurücknahme des wissenschaftlichen Anspruchs hinaus. Was das für das Recht und die Gesellschaft langfristig bedeutet, scheint den Akteuren keiner Erwägung wert zu sein.
I. Bei der Reform des juristischen Studiums geht es nicht um die Lösung eines klar definierten Problems; der eigentliche Grund der allseits beklagten Misere bleibt vielmehr im Dunkeln, und über die Folgen der beabsichtigten Maßnahmen besteht Unklarheit.
Die Reform des universitären Rechtsstudiums ist zu einem Dauerzustand geworden. Die Klagen über den Zustand der juristischen Ausbildung reißen nicht ab; aber im Grunde glaubt niemand, daß die gegenwärtige Reform daran viel ändern wird. Denn über den eigentlichen Grund der Misere, daß nämlich ein wissenschaftliches Rechtsstudium, das diesen Namen verdient, als Massenveranstaltung nicht zu haben ist, wird von den politischen Akteuren nicht gesprochen. Ein Problem, an dem man seit Jahren erfolglos herumlaboriert, wird in Wahrheit nur verwaltet. Das juristische Studium löst seit langem ein Unbehagen aus, und die Studienreform ist das Verfahren, in dem dieses Unbehagen hin- und hergewendet wird.
II. Um Klarheit zu gewinnen, müßte man sich endlich entschließen, zwischen Rechtswissenschaft und Rechtskunde deutlich zu unterscheiden.
In der Öffentlichkeit geben alle Beteiligten vor, um die Wissenschaftlichkeit der Juristenausbildung besorgt zu sein. Tatsächlich geht es vielen nur um die Vermittlung von Rechtskunde. Rechtswissenschaft und Rechtskunde aber sind zweierlei. Rechtskunde umfaßt die Kenntnis der vorhandenen Institutionen, der Gesetze und der Rechtsprechung. Zur Rechtswissenschaft dagegen gehört das Verständnis des Gesamtplans, der Zusammenhänge und der Gesetzmäßigkeiten, welche den einzelnen Erscheinungen zugrundeliegen. Während die Rechtskunde zunächst nur der Aufrechterhaltung und Fortsetzung des überkommenen Rechtsbetriebs dient, bezweckt die Rechtswissenschaft seine Verbesserung. Und wenn die Rechtskunde beschreibt, was in der Praxis geschieht, bemüht sich die Rechtswissenschaft um die Erarbeitung von Maßstäben, nach denen die Praxis sich richten soll. Wo dieser Unterschied sprachlich verdeckt wird, reden die Beteiligten aneinander vorbei.
III. Der überkommene Rechtsbetrieb verlangt allen Beteuerungen zum Trotz nicht nach Rechtswissenschaftlern, sondern nach Rechtskundigen, die über berufspraktische Fertigkeiten verfügen.
Rechtswissenschaftler geben sich gern der Illusion hin, als ob der Staat die juristischen Fakultäten der Rechtswissenschaft wegen eingerichtet hätte. Tatsächlich jedoch kommt es dem Staat so gut wie ausschließlich auf Rechtskunde an. Rechtswissenschaft ist nach dem Verständnis der politischen Funktionsträger nichts anderes als die Form, in der die Rechtskunde herkömmlich vermittelt wird. Aus der Sicht der Praxis ist das verständlich. Wo das Recht immer komplizierter wird, werden zunächst einmal Fachleute gebraucht, die es schlicht kennen und sich in den Rechtsbetrieb einfügen. Rechtswissenschaft kann sich in der Praxis geradezu als Störfaktor erweisen: allzu viel Reflexion hält den Betrieb auf und hindert, daß die erforderliche Arbeit getan wird. Der in den letzten Jahrzehnten stattgefundene Paradigmenwechsel spricht eine deutliche Sprache: Während früher das Programm verkündet wurde, daß die Universitäten kritische Juristen auszubilden hätten, geht die Forderung heute offen dahin, daß das Recht nicht kritisiert, sondern gelehrt werden soll.
IV. Wo die Universität nicht wissenschaftliches Denken, sondern Rechtskunde vermitteln soll, muß die Ausbildung Ansprüchen genügen, die nicht miteinander vereinbar sind.
Faktisch geht die Entwicklung dahin, den akademischen Unterricht auf Gesetzeskunde, Besprechung neuerer Entscheidungen und Anleitung zur Fallbearbeitung zu reduzieren. Im Grunde braucht man dafür keine Wissenschaftler. Wie die Erfahrung lehrt, sind Praktiker für dieses Geschäft häufig besser geeignet. Die Aufgabe der Rechtswissenschaft ist eine andere. Sie verwaltet die Grundlagen, Methoden und Vorverständnisse, von denen die Praxis zehrt, und denkt das Recht über den Status quo hinaus fort. Die Rechtswissenschaft ist mithin der Ort, wo das Rechtssystem über sich selbst reflektiert. Jeder Universitätslehrer kennt den Balanceakt, zu dem ihn sein Beruf als Juristenausbilder und Rechtswissenschaftler nötigt: einerseits den positiven Rechtsstoff auch für den Unbedarftesten verständlich darzustellen, gleichzeitig jedoch noch etwas ganz anderes zu vermitteln, mit dem man häufig nur die wenigsten erreicht.
V. Das Erste Juristische Staatsexamen ist eine rechtskundliche Prüfung; um es zu bestehen, sind wissenschaftliche Kenntnisse weder erforderlich noch nützlich.
Prüfungsstoff und Prüfungsverfahren des Ersten Juristischen Staatsexamens werden vom Staat vorgegeben. Das hat u.a. die Folge, daß der Nachweis positiver Kenntnisse und praktischer Fertigkeiten im Vordergrund steht. Die Kenntnis der herrschenden Meinung, die kurze, bündige Antwort, das schnelle Aufschlagen oder besser noch Auswendigkennen der wichtigsten Gesetze hat Vorrang vor anderem. Daß im Examen auch die geschichtlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und rechtsphilosophischen Grundlagen des Rechts eine Rolle spielen, ist eine jedermann bekannte Unwahrheit. Zur Ermittlung des juristischen Reflexionsniveaus und der wissenschaftlichen Befähigung ist das Staatsexamen bereits seiner Form nach ungeeignet. Es ist dazu bestimmt, den erreichten Ausbildungsstand zu kontrollieren und positive Kenntnisse selektiv abzufragen. Je gewichtiger die Rolle ist, welche das Staatsexamen spielt, desto mehr färbt sein Inhalt und Stil auf die juristische Ausbildung ab. Denn wo nicht die Prüfung auf die Lehre abgestimmt ist, muß sich die Lehre nach der Prüfung richten.
VI. So wie das juristische Staatsexamen beschaffen ist, ist der Repetitor bestens geeignet, darauf vorzubereiten, und eben dies tut er auch.
Wie es heißt, besuchen 90% der Examenskandidaten einen Repetitor außerhalb der Universität, um sich auf das Staatsexamen vorzubereiten. Die Beliebtheit des Repetitors beruht darauf, daß er nichts lehrt, als was zum Bestehen des Examens benötigt wird. Beschränkung heißt die Lösung, und zwar Beschränkung auf das, was möglicherweise geprüft wird. Das geht bis zum Auswendiglernen der herrschenden Meinung, zum Pauken von Argumentationsmustern und zum Memorieren von Prüfungsprotokollen, damit man vorbereitet ist auf das, was vermutlich gefragt wird, und antworten kann, was der Prüfer vermutlich zu hören wünscht. Wenn es in der juristischen Ausbildung einen Skandal gibt, dann liegt er nicht darin, daß die Universitäten den Repetitor nicht überflüssig machen, sondern darin, daß es überhaupt möglich ist, durch einen rein rechtskundlichen Paukbetrieb auf ein angeblich wissenschaftliches Examen vorzubereiten.
VII. Der Rechtswissenschaftler ist von seiner spezifischen Ausbildung und seinen Interessen her zur Vorbereitung auf das juristische Staatsexamen ungeeignet.
Wo es nicht um Wissenschaft geht, ist der Wissenschaftler fehl am Platz. Im juristischen Staatsexamen läuft daher die Doppelfunktion der Universitätsausbildung hoffnungslos auseinander. Geprüft wird rechtskundliches Wissen und die technische Versiertheit bei der Lösung von Fällen. Dagegen kommt so gut wie alles, was ein Rechtsdenker von Format seinen Schülern zu geben hat, in diesem Examen nicht vor. Wer an die kathartische Funktion der Wissenschaft glaubt, steht daher vor der Frage, ob er versuchen soll, den ihm anvertrauten jungen Menschen das zu vermitteln, was er einer akademischen Ausbildung allein für angemessen hält, oder ob er sie statt dessen wie ein Repetitor zum Examen führen soll. Wer sich als Wissenschaftler versteht, wird schwerlich den Repetitor spielen wollen. Damit aber ist er zur Examensvorbereitung ungeeignet.
VIII. Eine juristische Fakultät, die sich darauf einläßt, den politischen Wünschen gemäß den Repetitor zu ersetzen, wird unweigerlich selbst zum Repetitorium.
Die derzeitige Kritik an den juristischen Fakultäten läuft darauf hinaus, daß sie das Geschäft des Repetitors nicht selbst übernehmen. Nicht Forschung ist gegenwärtig gefragt, sondern Lehre, nicht Wissenschaft, sondern Wissen für die tägliche Praxis. Die Rechtslehrer sollen nicht an die großen Fragen ihrer Wissenschaft heranführen, sondern die Massen, die man ihnen ins Haus geschickt hat, in möglichst kurzer Zeit auf eine rechtskundliche Prüfung vorbereiten. Die juristischen Fakultäten haben sich auf dieses Spiel bereits in weitem Umfang eingelassen. Regelmäßige Klausurenkurse, Examinatorien und Repetitorien werden längst als Muß angesehen. Aber den Politikern ist das nicht genug. Solange es den Repetitor gibt, werden sie ständig mehr in dieser Richtung verlangen, und sie stoßen damit in den Reihen der Wissenschaft nur auf geringen Widerspruch. Denn der Jurist, der seiner rechtmäßigen Obrigkeit widersprechen würde, muß erst noch geboren werden. Eine juristische Fakultät, welche die Aufgabe des Repetitors vollinhaltlich übernimmt, muß indessen selbst zu einem Repetitorium werden. Es ist ein Irrtum zu meinen, die juristischen Fakultäten könnten den Repetitor ersetzen und gleichwohl wissenschaftliche Fakultäten bleiben.
IX. Die folgerichtige Konsequenz einer Hochschulpolitik, die nicht auf Rechtswissenschaft, sondern auf Rechtskunde aus ist, ist die Abschaffung der juristischen Fakultäten.
Juristische Fakultäten richtet man ein, um jene seltene Spezies von Menschen zu gewinnen, die bereit sind, ihr Leben für die Gewinnung neuer Erkenntnisse herzugeben. Man tut dies in der Hoffnung, daß dies langfristig allen zugute kommt und daß es für die nächstfolgende Generation das beste ist, wenn sie eben da unterrichtet wird, wo man sich um solche Erkenntnisse bemüht. Wo die juristischen Fakultäten nur noch als rechtskundliche Unterrichtsanstalten fungieren, sind sie zu teuer und außerdem ineffektiv. Solange wissenschaftliche Forschung und rechtskundliche Wissensvermittlung gleichgewichtig nebeneinander herliefen, konnte dieser Widerspruch verborgen bleiben. Wenn jedoch die Rechtskunde in einer Weise in den Vordergrund tritt, daß wissenschaftliche Forschung nur noch auf Kosten des Privatlebens möglich ist, so ist die Wissenschaft in Wahrheit zum privaten Steckenpferd des Wissenschaftlers geworden. Auf Dauer wird kein Politiker bereit sein, ein solches Steckenpferd aus öffentlichen Mitteln zu finanzieren. Wer der Meinung ist, daß die moderne Gesellschaft kein Auge braucht, das ihr Recht wissenschaftlich beobachtet, wird es herausreißen. Die gegenwärtige Hochschulpolitik läuft daher tendenziell darauf hinaus, die juristischen Fakultäten auf das Niveau von Fachhochschulen zu bringen oder aber die Juristenausbildung auf Fachhochschulen zu verlagern.
X. Infolge der herrschenden Begriffsverwirrung wird man dieser Entwicklung erst dann allgemein gewahr werden, wenn vollendete Tatsachen geschaffen sind.
Für die Masse derjenigen, die an einer wissenschaftlichen Hochschule fehl am Platz sind, ergibt sich aus dem Niveauverlust der juristischen Fakultäten kein Nachteil. Sie wird dadurch nur von Ansprüchen entlastet, für die sie ohnehin keinen Sinn hat. Nachteile sind allenfalls für die künftige Elite zu erwarten. Denn eine juristische Ausbildung, die sich in der Vermittlung von Rechtskunde und technischem Know-how erschöpft, kann einer Elite nicht das geben, was sie braucht. Sich zur juristischen Elite heranzubilden, wird daher im Zug der Entwicklung ebenfalls zu einer Privatangelegenheit werden. Das fällt nur deshalb nicht auf, weil die juristischen Fakultäten der künftigen Elite schon heute nicht mehr viel zu bieten haben. Vielleicht wird sich, wenn die Universitäten vollends ruiniert sind, einmal ein neues Unbehagen einstellen. Wenn es eine wissenschaftliche Ausbildung, die diesen Namen verdient, nicht mehr gibt, wird man ihren Wert vielleicht besser zu schätzen wissen. Auf die Erleuchtungen der Hochschulpolitik, die dann zu erwarten sind, darf man jetzt schon gespannt sein.